21.5.15

Säkularität


Folgenden Artikel habe ich irgendwann in den Nullerjahren von Jutta per Mail bekommen. Die Worte des Artikels (Jutta wusste nicht, wer ihn geschrieben hat und was es genau bedeutet) haben ihre Arbeit lange Jahre inspiriert. 

Säkularität

I. Allgemeines über die Säkularität.

1. “Gott sah, was er geschaffen hatte, und siehe, alles war sehr gut“. Aus dieser Aussage der Genesis geht der hohe Wert hervor, den die geschaffenen Wirklichkeiten (die ganze Welt der nichtsakralen Dingen) vor Gott haben. Die Bejahung dieses Wertes (letztlich ein Akt der Nachahmung Gottes, des Schöpfers) begründet die Säkularität. Die Säkularität ist die Geisteshaltung, die den Menschen ermöglicht, Gott in der Schöpfung, d.h. konkret in den nichtsakralen Dingen, zu entdecken. Und andersherum ermöglicht die Haltung der Säkularität die Einsicht, dass die ganze Schöpfung der nichtsakralen Dinge die Fähigkeit in sich trägt, Begegnungsort des Menschen mit Gott zu sein. Das Säkulum, die Welt, das Materielle wie das Geistige, das Physische wie das Psychische, alles Erschaffene, das mit dem Menschen zu tun hat, trägt in sich einen direkten Bezug auf Gott und bedarf dafür keinerlei sakrale Umformung. Dies zu erfassen, vermögen diejenigen, die die Haltung der Säkularität haben. Die Wertschätzung der Wirklichkeit der nichtsakralen Dinge als Wege zu Gott ist Bestandteil der sog. Theologie der Schöpfung und liegt dem Begriff der Säkularität zugrunde.

2. Die Tatsache, dass die Zweiten Person der Dreifaltigkeit eine menschliche Natur angenommen hat, stellt den Wert des rein Natürlichen endgültig und unanfechtbar unter Beweis. Seit Gott in Jesus Christus wahrer Mensch geworden ist, ist das Menschliche, ist das Natürliche vergöttlicht. Diese Überlegung führte den sel. Josemaría zu der Aussage, seitdem Gott Mensch geworden sei und als wahrer Mensch gelebt habe, gebe es keine menschliche Wirklichkeit mehr (außer der Sünde), die nicht zugleich irgendwie “göttlich“ wäre. Diese Überlegung bezüglich des hohen Wertes der natürlichen Wirklichkeiten ist eine wichtige Aussage der Theologie der Erlösung (der Erlösung der nicht sakralen Welt) und liegt dem Begriff der Säkularität zugrunde.

3. Nach langanhaltender und zumeist einseitiger Betonung des Sakralen als Ort der christlichen Existenz begann der sel. Josemaría Ende der 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Wende im Verständnis der materiellen Wirklichkeiten der Schöpfung in der Kirche zu vollziehen. Nicht allein das Sakrale sei Ort christlicher Existenz, sondern auch das Nichtsakrale, die Welt “außerhalb des Gottestempels“. Für die überwiegende Zahl der Getauften sei die “Welt draußen“ ihre “natürliche Heimat“ und damit der Ort, wo sie Jesus Christus begegnen würden, der Ort, wo ihre christliche Existenz sich abspielen würde.

4. Das war die Renaissance der Säkularität in der Geschichte der Kirche. Dadurch wurde der Wert des Natürlichen neu entdeckt. Wer die Tugend der Säkularität besitzt, hat eine positive Einstellung zum Weltlichen. Wie Gott am Anfang der Geschichte erkennt er, dass alles sehr gut ist.

5. Das vom sel. Josemaría auf göttliche Eingebung hin gegründete Opus Dei möchte den Wert des Säkularen verkündigen. Das ist das Charisma, d.h. der göttliche Auftrag des Opus Dei: zu verkünden, dass der normaler Bürger mitten in der Welt zu einer tiefen Gottverbundenheit gelangen kann, und zwar gerade in dieser Welt und durch die Handhabung der Welt; theologisch ausgedrückt heißt es, dass die Heiligkeit mitten in der Welt möglich ist. Deshalb gehen Opus Dei und Säkularität Hand in Hand. Denn das Opus Dei ist von Gott ins Leben gerufen, gerade um den Wert des Säkularen für die Heiligung der Menschen sicherzustellen. Das Opus Dei ist tatsächlich nicht entstanden, etwa um die Rechtgläubigkeit in der Verkündigung des Glaubens und der Sitten zu gewährleisten (das ist Aufgabe der gesamten Kirche, allen voran des Lehramtes, und es gibt schon zahlreiche Institutionen, die sich dies zur Aufgabe gemacht haben). Das Charisma des Opus Dei ist ein anderes. Es besteht darin, den Wert des Weltlichen als Weg zum Göttlichen zu verkünden. Nicht ohne Grund hieß eine der ersten Bücher über das Opus Dei: “El valor divino de lo humano“. Die Säkularität ist die Geisteshaltung, die aus der Bejahung des Menschlichen als Weg zum Göttlichen und als Ort der Begegnung mit Gott hervorgeht. Deshalb ist die Säkularität für das Opus Dei so etwas wie die Luft für die Lungen, so etwas wie das Wasser für die Fische.

6. Wenn die Säkularität tatsächlich zum Gründungscharisma des Opus Dei gehört, dann stellt deren Bewahrung und Pflege eine wesentliche Pflicht für alle im Opus Die dar. Denn das Opus Dei steht und fällt mit der Säkularität. Um die Säkularität seiner geistlichen Kinder zu verteidigen und zu schützen, hat unser Gründer tapfer und glaubenstark sozusagen bis über die Schmerzensgrenze hinaus ausgehalten. Wie leicht wäre es für ihn gewesen, wenn er die Approbation des Werkes als eine neue Ordensgemeinschaft modernerer Zügen zugelassen hätte. Er hätte sich gewiss unzählige Probleme erspart, er hätte den Auftrag Gottes aber verfehlt. Gott wollte, dass die Mitglieder des Werkes “sich in nichts von den anderen Mitbürgern der zivilen Gesellschaft unterscheiden“, wie er öfter formuliert hat. Die Geschichte des Rechtsweges des Werkes in der Kirche stellt das unermüdliche und beharrliche, unerschütterliche und zugleich kluge Ringen des Gründers unter Beweis, die Säkularität der Mitglieder absolut zu gewährleisten. Hier konnte er keine Konzessionen machen.

7. Für das Opus Dei hat die Säkularität also eine grundlegende Bedeutung. Sie hat mit dem Charisma des Werkes wesentlich zu tun. Ja, sie ist ein Merkmal ihres Wesens. Würde das Opus Dei eines Tages die Säkularität verlieren, würde das Werk zusammensacken. Das wäre nicht mehr das Opus Dei, das Gott den sel. Josemaría am 2. 10.1928 hat sehen lassen. Aber auch eine theoretische oder praktische Vernachlässigung der Säkularität würde das Opus Dei erheblich schwächen, wenn nicht in seiner Wirksamkeit geradezu lähmen.

8. Wie könnte rein theoretisch die Säkularität im Werk verloren gehen, bzw. beschädigt werden? Dies könnte auf zwei Wegen geschehen:

a) Wenn die Verkündigung im Opus Dei den säkularen Ansatz tatsächlich aus den Augen verlöre,
bzw. ihn nicht vordergründig berücksichtigte. So etwas könnte rein theoretisch zum Beispiel geschehen, wenn besonders gewichtige geschichtliche Umständen – wie etwa der zunehmende Glaubensverlust auch unter Katholiken -, die Mitgliedern des Werkes dazu veranlassten, in ihrem apostolischen Bemühen sich ganz oder vorwiegend anderen Bereichen des christlichen Gutes zu widmen, etwa der bloßen Weitergabe der rechtgläubigen katholischen Lehre, oder gar der Aufdeckung von Missbräuchen oder Häresien in der theologischen Lehre oder in der seelsorglichen Verkündigung. Das wäre verheerend für das Opus Dei, denn dadurch könnte das säkulare Gründungscharismas des Werkes verblassen. Aber Gott hat das Opus Dei nicht dazu entstehen lassen, dass die Rechtgläubigkeit in der Kirche bewahrt werde, sondern um den Menschen klar zu machen, dass diese Welt, in der wir leben, gut ist, und dass die Menschen in ihr Gott finden können und sie durch eine gemäße Handhabung der irdischen Wirklichkeiten in Kontakt mit Gott treten. In der Verkündigung des Opus Dei muss demnach – ohne Hintansetzung der normalen Verkündigung der christlichen Lehre - stets und vordergründig die wesentliche Lehraussage des Werkes stehen, nämlich dass diese konkrete, säkulare Welt, in der wir leben, der Ort der christlichen Existenz ist, der Ort, wo die Tugenden lebbar sind, der Ort, wo der Christ sich heiligt, d.h. in Gott wächst, ihm ähnlich wird, mit anderen Worten: wo er das Ziel seines Lebens erreicht. Die Einfädelung der großen Inhalte des Glauben in den Stoff des säkularen Alltags, das ist die große Aufgabe des Opus Dei. Der Wirksamkeit des Werkes ist an die Wahrung seines Gründungscharismas gebunden.

b) Die Säkularität ginge ebenso verloren, wenn die Menschen im Opus Dei nicht mehr säkular lebten. Dies wäre der Fall, wenn sie die Wesensmerkmale der Säkularität, wie sie unten noch aufgezeichnet sein werden, nicht mehr beachteten. Das könnte rein theoretisch geschehen, wenn sie eines Tages das “Porro unum necessarium“ im Sinne der Geringachtung des Natürlichen (und einer Flucht aus den Verantwortungen ihrer konkreten Existenz) verstünden und nicht als Auftrag, mitten im Alltag das Herz zu Gott zu erheben.


II. Wesensmerkmale der Säkularität

1. In der Lehre des sel. Josemaría ist die Säkularität der berufungsgemäße Rahmen unseres Daseins und deshalb auch unseres Christseins. Säkularität besagt Liebe zur Welt, jedoch als “Schemel seiner Füße“. Die Säkularität vergötzt nicht das Natürliche, sondern erkennt in ihm seine Fähigkeit, in Verbindung mit Gott gebracht zu werden. Die Welt und das Handeln in der Welt ist für die Mitglieder des Werkes ihr normales Milieu. Der Satz des Gründers: “Unsere Zelle ist die Straße“ darf niemals zu einer Floskel degradiert werden. Wobei man sagen muss, dass unter “Strasse“ nicht nur der (meistens) asphaltierte Weg, an dem die Häuser stehen, zu verstehen ist, sondern die ganze Wirklichkeit des Natürlichen und Weltlichen, mit all dem, was dazugehört.

2. “Gott ist uns in allem gleich geworden außer der Sünde“: Das bedeutet: was nicht sündhaft ist, hat einen Wert in sich, den es zu bejahen gilt. Höhepunkt dieses Wertes des Natürlichen ist seine oben erwähnte Fähigkeit, zu Gott zu führen, ohne dass es sich dabei selbst auflösen müsste. Die Welt hat in sich selbst das Vermögen, in Kontakt mit Gott gebracht zu werden, und auch zu Gott zu führen.

3. Der Begriff der Säkularität ist nicht negativ belegt (nicht Ordensangehöriger zu sein). Das wäre eine grobe, verheerende Verkürzung. Es ist aber nicht unwichtig, daran zu erinnern, dass der sel. Josemaría uns immer wieder sagte, wir seien in das Opus Dei gekommen, unter der Bedingung, keine Ordensleute zu sein. Die Gläubigen des Opus Dei ändern nicht ihren Stand, wenn sie sich dem Opus Dei anschließen. Der Gründer erklärte die Berufung zum Werk so: Es ist wie ein Licht, das in einem dunklem Ort aufgeht. In diesem (neuen) Licht sehen wir alles, was wir sind und haben, nun neu (“tamquam lucerna lucens in caliginoso loco“).

4. Die Säkularität lässt die Welt als gut bejahen. “Gott sah, was er geschaffen hatte, und es war alles sehr gut“ (Genesis). Ein Mensch mit einer säkularen Mentalität liebt die Welt. Beeindruckend sind in diesem Kontext die Texten des sel. Josemaría über die Welt und die weltliche Wirklichkeiten in “Gespräche mit Msgr. Escrivá“, besonders in der Ansprache: “Die Welt leidenschaftlich lieben“. Diese Ansprache gilt nicht ohne Grund als “Grundsatzerklärung“ des Gründers über das Werk. Sie ist deshalb ganz besonders zu beachten.

5. Die Liebe zur Welt ist nicht statisch zu verstehen. Sie umfängt die Welt in ihrer dynamischen Struktur. Wichtiger Bestandteil der Welt ist ihre Veränderbarkeit. Wenn selbst die Kirche “semper reformanda ist“, erst recht ist es die Welt. Unsere Welt verändert sich ständig, dies gehört zu ihrem Wesen. Wer dies nicht sehen will und immer nach dem Alten fragt, als hätte die Geschichte ihm etwas gestohlen, der ist und denkt nicht säkular. Wer hingegen eine säkulare Haltung hat, erkennt Gott in den Neuerungen der Zeit; durch die Neuerungen hindurch hört er die Stimme Gottes. Nur ein Beispiel: die Offenheit, die Transparenz, die Unbekümmertheit ... , die unsere gegenwärtige Gesellschaft prägen, sind das nicht Zeichen dafür, dass Gott uns an den Wert dieser Tugenden erinnern will? In den Veränderungen im menschlichen Verhalten, die der geschichtliche Ablauf der Zeit mit sich bringen, spürt der säkulare Mensch Gott, der ihn auf etwas hinweist, bzw. zu etwas herausfordert. Da er zu den Veränderungen positiv eingestellt ist, bzw. sich nicht prinzipiell dagegen stemmt, fällt es ihm leichter als anderen, in den “Zeichen der Zeit“ die Stimme Gottes wahrzunehmen.

6. Der Ablauf der Geschichte ist in der Tat ein wichtiger Teil unserer Welt. Darum gehört die Annahme der Geschichte zum Begriff der Säkularität. Der säkulare Mensch wehrt sich nicht gegen das Neue. Er weiß, dies gehört dazu, zur Geschichte. Die Geschichte ist der zeitliche Raum, in dem sich die Existenz abspielt. Eine positive Haltung zur jeweiligen geschichtlichen Zeit, mit ihren Bräuchen, ihrer Denkweise, ihren Kulturausprägungen ... gehört zum Wesen der säkularen Haltung eines konsequent denkenden Christen in der Welt. Denn “Gott ist uns in allem gleich geworden außer der Sünde“.

7. Wenn es so ist, dann muss man schlussfolgern: alle Strukturveränderungen in der Gesellschaft, die nicht sündhaft sind, gehören zu der Veränderbarkeit der Welt, eine Dimension, die, wie bereits gesagt, zum Begriff der Welt gehört. Denn Gott hat die Schöpfung dem Menschen anvertraut mit der Auflage, diese zu entfalten, also sie zu verändern. Nicht alle Veränderungen sind akzeptabel. Denn manche, ja vielleicht sogar viele, sind oder führen zur Sünde. Ist das aber nicht der Fall, dann muss der Mensch in der Welt diese Veränderungen bejahen. Das ist eine grundlegende Forderung der Säkularität. Wer hier Probleme hat, muss sich die kritische Frage gefallen lassen, ob er die Säkularität nicht vielleicht verloren haben könnte.

8. Wer heute in der Welt so lebt, wie die Menschen vor beispielweise 20 Jahren lebten, verfehlt einen Befehl des Schöpfers in wichtiger Sache. Er hat die Säkularität nicht verstanden, bzw. verloren. Seine “Treue“ an dem, was früher aktuell war, befreit ihn nicht von dem Vorwurf, er habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt und habe deshalb nicht mit dem Schöpfer mitgearbeitet, der jedem die Aufgabe gegeben hat, diese Welt mit aufzubauen. In der Haltung der Annahme oder Ablehnung der Geschichte der Gegenwart, d.h. der Zeitgeschichte, erkennt man, ob der Mensch säkular gestimmt ist oder nicht. Die Annahme der Geschichte mit ihren Veränderungen ist somit wichtiger Inhalt der Säkularität. In einem Brief an Mitglieder des Werkes unter dem Datum 9.01.1959 schrieb er in Nr. 58: “El cambio de las circunstancias históricas – con las modificaciones que introduce en la sociedad – puede hacer que lo que fue justo y bueno en un momento dado, deje der serlo. De ahí que deba ser incesante en vosotros esa crítica constructiva, que hace imposible la acción paralizante y desastrosa de la inercia".

9. Die Offenheit zur Annahme der geschichtlichen Veränderungen als “Zeichen der Zeit“ betrifft den ganzen Menschen in seiner Vielfältigkeit, d.h. sie streckt sich sowohl auf den inneren wie auch auf den äußeren Bereich. Niemand wird in Frage stellen wollen, dass die geschichtlichen Veränderungen, die der Mensch im Laufe der Geschichte erfährt, sowohl sein Inneres (z.B. Denkweise, Gefühlsleben, Einstellung zu den Mitmenschen, Moralempfinden ...) wie auch sein Äußeres (Ausdruckweise, Kleidung ...) betreffen.

10. Einige Beispiele darüber, wie der Mensch sich in etwa den letzten 30 Jahren verändert hat, möchte ich hier doch anführen. Überflüssig scheint mir der Hinweis darauf, dass die Säkularität die Bejahung derartiger Veränderungen fordert.

· Der Mensch ist selbständiger geworden. Ihm widerstrebt es, verplant zu werden. Er möchte sich selber einbringen, braucht einen Freiheitsraum auch in der Durchführung von Aufträgen. Er will mitdenken, spürt die Verantwortung. Es widerstrebt ihm zutiefst, dass man ihm vorkaut. Er will selber beißen. Da stellt sich die Frage: geht das nicht zu weit? Wird die Tugend des Gehorsams nicht dadurch untergraben? Die Frage ist wichtig, ja sehr wichtig, für das Leben mitten in der Familie (Beziehung von Eltern zu Kindern und umgekehrt) wie auch in kirchlichen Organisationen, die behaupten, keine Ordensgemeinschaften, bzw. keine Gesellschaften des geweihten Lebens zu sein. Wird die Autorität durch den neu gewonnenen Sinn für Selbständigkeit untergraben? Dazu wäre zunächst zu sagen, dass der Gehorsam in einer monastischen Institution, bzw. in einem Orden oder in einem ordensähnlichen Gebilde anders gehandhabt wird als in der zivilen Gesellschaft: etwa in der Familie und in kirchlichen Institutionen, deren Mitglieder ihren Status als Laien, bzw. als säkulare Priester nicht verlieren. Im Gegensatz dazu, verlieren die Mitglieder einer Ordensgemeinschaft beim Eintritt in den Orden die Säkularität. Das ist jedoch in dem Falle der Familien wie auch der Mitglieder von säkularen Institutionen der Kirche (z.B. von Personalprälaturen) ganz anders.

· Ohne Hintansetzung des Gehorsams und seines absolut entscheidenden Wertes in der Erlösung (“durch den Gehorsam des Einen ist das Leben in die Welt gekommen“) ist die Beschaffenheit des Aktes des Befehlens und der des Gehorchens von der Wandlung der jeweiligen geschichtlichen Zeiten nicht ausgenommen. War es in früheren Zeiten üblich, Befehle zu erteilen ohne diese zu begründen, so ist es heute nicht nur in den Familien, sondern überall in der zivilen Gesellschaft so, dass der Befehlsgeber dem Untergebener die Gründe zu erläutern pflegt, warum er den Befehl erteilt. Dadurch wird der Gehorsam in nichts verändert. Es handelt sich nur um einen neuen Stil des Befehlens und des Gehorchens. In diesem neuen Stil wird die Person des Gehorchenden zweifellos mehr berücksichtigt als in früheren Zeiten, wo man in ihm vor allem nur oder vorwiegend den Durchführer dessen sah, was ein anderer (der Befehlsgeber) überlegt und beschlossen hatte.

· Immer mehr Autoritätsträger pflegen heutzutage, sich mit ihren Untergebenern zu beraten, bevor Entscheidungen getroffen werden. Konnte früher ein Chefarzt ein Alleinregierer in seiner Abteilung sein, so ist es heute ganz anders. Er muss sich beraten, zwar nicht im Grundlegensten (die Operation muss er selber durchführen), wohl aber in allem anderen Aspekten des Lebens in der Abteilung, zumal in Personalfragen. Der autoritäre Stil hat dem kollegialen Stil Platz gemacht.

· In seinem Apostolischen Schreiben “Novo millennio ineunte“ geht der Heilige Vater auf den soeben besprochenen Geist der Offenheit im Umgang zwischen Autoritätsträgern und Untergebenen ein. Der Papst bejaht ihn ausdrücklich, mitunter mit eindringlichen Worten. Johannes Paul II. sieht in diesem Geist der Offenheit einen Kristallisationspunkt der von ihm in diesem Schreiben proklamierten “Spiritualität der Gemeinschaft“. Ich verweise hier vor allem auf Nr. 45 des genannten Apostolischen Schreibens. Unter anderem heißt es dort: “Theologie und Spiritualität der Gemeinsacht bewirken nämlich ein wechselseitiges Zuhören zwischen Hirten und Gläubigen. Dadurch bleiben sie einerseits in allem, was wesentlich ist, a priori eins, und andererseits führt das Zuhören dazu, dass es auch in diskutierbaren Fragen normalerweise zu ausgewogenen und gemeinsam vertretbaren Entscheidungen kommt“.

· Zuhörenkönnen ist zweifelsohne eine Eigenschaft der Offenheit des Geistes, die zu den neu gewonnenen Werten unserer geschichtlichen Zeit gehört. Das Zuhörenkönnen des Autoritätsträgers muss jedoch ehrlich sein. Ein Autoritätsträger, der zwar fragt, jedoch von seiner “im eigenen Kämmerlein“ bereits getroffenen Entscheidung grundsätzlich nicht bereit ist abzurücken, nimmt die Person des Untergebenen nicht ernst. Er hätte keinen Geist der Offenheit. Sein Stil fordert geradezu zur Rebellion auf, auf jeden Fall zum Unverständnis. In einer Gemeinschaft von säkularen Bürgern wäre eine solche Haltung auf kurz oder lang nicht tragbar, denn sie wäre ein grober Verstoß gegen die Menschenwürde. Diese haben ein Recht darauf, gehört zu werden, und dass ihre Ansichten bedacht werden. Wer sie reden lässt, ohne die Bereitschaft, ihre Argumente ernsthaft zu überlegen und die Entscheidung evtl. zu überprüfen, nimmt den Menschen nicht ernst, er missbraucht im Grunde seine Macht.

· War es früher so, dass Eltern und Vorgesetzte den Kindern und Untergebenen in der Regel nicht die ganze Wahrheit sagten (etwa z.B. um die Kinder “nicht zu beunruhigen“), so will der heutige Mensch auf gar keinen Fall, dass man ihm etwas verheimlicht, dass man ihm Scheinargumente gibt, etwa “um sein inneres Leben zu schützen“. Das ist in säkularen Einrichtungen der Kirche (z. B. in den Diözesen, Personalprälaturen und dgl. mehr) von großer Bedeutung. Eine Verschleierung der Gründe lässt sich mit der Menschenwürde nicht vereinbaren. Der heutige Mensch kann nicht ertragen, dass man ihn nicht ernst nimmt, dass man mit ihm so umgeht, als wäre er noch ein Kind. Er fühlt sich dann nicht ernst genommen, ungerecht behandelt.

· Dass der heutige Mensch ernst genommen werden möchte, kommt einer Aufwertung des Persönlichen gleich. Das ist sehr zu begrüßen und steht ganz im Einklang mit dem Evangelium. Auf jeden Fall gehört die Aufwertung des Persönlichen zu den Merkmalen unserer Zeit. Der sel. Josemaría hat hierzu Weichenstellendes verkündet. In seinem letzten gedruckten Brief vom 14.02.1974 hat er sinngemäß geschrieben, das Werk sei nicht für Kinder, sondern für erwachsene Christen, die sich vor Gott als Kinder wissen. Damit hat er dem modernen Menschen aus der Seele gesprochen. Die Menschen unserer Zeit wollen nicht wie Kinder behandelt werden, etwa in dem Sinne, das man ihnen immer neue Richtlinien gibt, als würden sie nicht selber in der Lage sein, etwas eigenständig zu verrichten oder zu fragen, wenn sie selber es für sinnvoll halten.

· Der heutige konsequente Katholik, der entsprechend dem Geist unserer geschichtlichen Zeit, das Persönliche besonders schätzt, unterscheidet zwischen dem göttlichen Bereich, in dem er nur Empfänger ist, und dem menschlichen Bereich, in dem er vom Schöpfer zur Mitverantwortung gezogen wurde. Und er will in all dem, was nicht zum göttlichen Bereich gehört, persönlich, d.h. im eigenen Namen handeln. Er will die Verantwortung dessen tragen, was er initiiert hat und tut. Er will sich nicht mehr, wie oft früher, unter dem Schutz des Kollektiven stellen.

· Der säkulare Charakter der Gläubigen einer Diözese, bzw. einer Personalprälatur bringt mit sich, dass das, was sie tun (Ausnahmen bestätigen die Regel) im eigenen Namen tun. Es ist daher absolut zu vermeiden, dass die Gläubigen sozusagen als Handlanger der kirchliche Institution wirken, der sie sich aufgrund des Wohnsitzes (Diözese) oder einer säkularen Hingabe (Personalprälatur) angeschlossen haben. Das hieße, das Feld der Säkularität zu verlassen.

· Der heutige Mensch hat einen neuen Zugang zur Verantwortung und zur Freiheit bekommen. Deshalb lehnt er Kontrollen im Privatbereich grundsätzlich ab. Er möchte nicht durch Kontrolle zur Tugend herangeführt werden. Für Menschen, die, weil sie säkular sind, in der Welt leben, wo der Kontakt mit der Sünde oft unvermeidbar ist, hat es offenbar wenig Sinn, wenn die geistliche Leitung dieser Menschen vorwiegend, bzw. allzu stark auf der Vermeidung von möglichen Gefahren, selbst in an sich nicht gefährlichen säkularen Lebensumständen, ausgerichtet ist. Vielmehr sollte man den modernen Menschen klar machen, dass die Tugend die Folge der persönlichen Entscheidung für Christus ist, und weniger der Mangel an Gelegenheit. Leider gibt es überall Folgenerscheinungen der Sünde. Doch geistlich allzu behütete Menschen haben heutzutage schlechte Überlebenschancen.


11.3.15

Wir haben geheiratet, um uns gegenseitig glücklich zu machen


Übersetzt aus dem Spanischen von Angelika Strüder. Aus "Jutta Burggraf: Un nuevo estilo de vida - amar y perdonar". Serie Antropologia 11 Kapitel 2: El Arte de convivir en el Matrimonio" (2007). Die Formatierung ihres Dokuments habe ich beibehalten.

DIE KUNST, IN DER EHE GEMEINSAM GLÜCKLICH ZU WERDEN


Ich erinnere mich noch lebhaft an eine Unterhaltung mit einer österreichischen Freundin, bei der sie mir von den Erfahrungen ihrer ersten beiden Ehejahre erzählte: „ Als unser erstes Kind geboren wurde – so gestand sie mir –, kam ich mit der Hausarbeit, die sich als notwendig erwies, an kein Ende. Den ganzen Tag tat ich nichts anderes als Putzen, Waschen und Aufräumen. Abends war ich regelmäßig erschöpft und schlecht gelaunt. Eines Tages dachte ich dann: ‚So kann das nicht weiter gehen; ich entwickle mich zu einem Putzteufel und kümmere mich gar nicht um mein Kind. Zuerst kommen die Menschen, dann die Sachen.’ Also konzentrierte ich mich von da an ganz auf meinen Sohn. Ich trug ihn auf dem Arm, ich sang ihm Lieder vor und sprach mit ihm. Wir bildeten eine wunderbare Einheit. Aber nach einiger Zeit merkte ich, dass mein Mann nicht zu unserer Symbiose dazugehörte; mein Verhalten musste notwendigerweise zur Folge haben, dass er sich in seinem eigenen Haus wie ein Fremder fühlte, obwohl er sich nie beschwerte. Daraufhin machte ich mir von neuem Gedanken: ‚Das Kind ist ein Segen Gottes, aber es ist nicht der erste Mensch, der mir anvertraut worden ist. Vor ihm kommt noch mein Mann. Er und ich, wir bilden eine Gemeinschaft der Liebe, von der wir hoffen, dass sie unser ganzes Leben andauern wird. Das Zusammenleben mit den Kindern jedoch hört normalerweise nach einigen Jahrzehnten auf. Wir lieben unsere Kinder sehr, aber schließlich und endlich sind sie doch wie Gäste in unserer Zweiergemeinschaft anzusehen; ganz besonders liebe Gäste allerdings, die wir einladen, an ausgedehnten Zeiträumen unseres Lebens teilzunehmen und denen wir das Beste von uns mitgeben möchten.’ So änderte ich noch einmal mein Verhalten und sprach auch mit meinem Mann darüber. Seither ist er meine erste Sorge – und ich die seine. Und so können wir von uns behaupten, dass wir ein glückliches Ehepaar sind, trotz all der Höhen und Tiefen, die das Leben mit sich bringt.“


Dank ihrer selbstkritischen Haltung hatte meine Freundin den Schlüssel entdeckt, um ihr Zuhause in eine Quelle des Lebens und des Glücks für alle seine Bewohner zu machen: Sie war der Bedeutung der Liebe zwischen den Ehepartnern, der Notwendigkeit ihrer beständigen Pflege und Weiterentwicklung auf die Spur gekommen. In der Tat leistet man den Kindern einen schlechten Dienst, wenn man um ihretwillen den Partner auf den zweiten Platz verweist, oder wenn Vater und Mutter aufgrund der ständig steigenden Arbeitsanforderungen und der vielfältigen Beschäftigungen kaum noch Zeit gemeinsam verbringen können oder wollen. Was die Kinder wirklich brauchen, um sich innerlich ausgeglichen und frei im Leben zurecht zu finden, ist nicht nur die Erfahrung, dass ihre Eltern sie lieben, sondern auch die Sicherheit, dass ihre Eltern sich gegenseitig lieben.


Die Haltung, die meine Freundin von ihrem dritten Ehejahr an einnahm, lässt sich in einem einfachen Satz zusammenfassen: „Wir haben geheiratet, um uns gegenseitig glücklich zu machen und zusammen die Anderen glücklich zu machen.“


I. EINE NEUE EINHEIT


Wir haben heute eine besondere Sensibilität dafür entwickelt, dass die Ehe nicht nur die Grundlage der Familie ist, sondern an erster Stelle eine persönliche Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau, eine Lebens- und Liebesgemeinschaft, die Überwindung der ursprünglichen und radikalen Einsamkeit, unter der jeder Mensch leidet. Beide, Mann und Frau, sind gerufen, sich gegenseitig zu helfen, ein glücklicheres Leben zu führen, das nicht „meins“ und nicht „deins“, sondern „unser Leben“ ist, eine neue Einheit, ein gemeinsames Abenteuer, das immer einzigartig ist. Und da jede Ehe einmalig ist, ist auch der Weg ihrer Liebe einmalig.


1. Einheit von zweien


Wenn zwei Menschen heiraten, entscheiden sie sich, den Lebensweg fortan gemeinsam zu gehen. Sie treten in eine neue Phase ihres Lebens, die normalerweise von der Freude gekennzeichnet ist, ausgewählt und geliebt zu sein. Jeder von ihnen erkennt sich im Blick und in der Wertschätzung des anderen wieder, jeder ist für den anderen Sicherheit und Stütze. Das Ich erwacht, wächst und entwickelt sich durch die unwiderstehliche Anziehungskraft des Du.


Ein Ehepartner darf vom anderen nicht als ein Besitz angesehen werden, den man ein für allemal erworben hat, sondern als Person, die eine Entwicklung durchmacht. Die Liebe besteht darin, dem Anderen weite Bereiche an Freiheit zu lassen und sich zu schenken, ohne kleinliche Berechnungen anzustellen. „Beziehung ist nur dank ihrer Unentgeltlichkeit lebendig. Ohne diesen Sauerstoff würde jede Beziehung zwischen Menschen ersticken und dem Tod verfallen. Die Unentgeltlichkeit ist so notwendig wie die Luft und das Brot.“ (A. Scola,  Die „entscheidende Frage“ der Liebe: Mann-Frau; Madrid, 2003)


Die Liebe verlangt außerdem, dem Anderen keine Etiketten aufzukleben und ihn nicht in ein vorgefertigtes Schema zu pressen. Sie lässt uns begreifen, dass wir nie damit fertig werden, ihn kennen zu lernen; jeder Tag ist in dieser Hinsicht voller Überraschungen. Darauf weist auch ein Schriftsteller in seinem Tagebuch hin: „Es fällt auf, dass wir gerade in Bezug auf den Menschen, den wir lieben, kaum sagen können, wie er ist. Wir lieben ihn einfach. Darin besteht gerade die Liebe, das Wunder der Liebe, das uns bereit macht, dem anderen überall hin zu folgen, in all seinen Entwicklungen, auf all seinen Wegen.“ (Max Frisch, Tagebuch 1946-1949; Frankfurt 1970). Damit ist nicht gemeint, dass man darauf verzichten soll, zu sein, was man ist, sondern grade das dem Anderen großzügig zu schenken, es ihm zur Verfügung zu stellen, um mit der Zeit etwas zu schaffen, das wirklich „unseres“ ist.


In dem Maß, in dem Mann und Frau dahin gelangen, eine neue Lebenseinheit zu bilden, wächst auch das Bedürfnis, einerseits die eigene Innerlichkeit zu bewahren, andererseits aber den Egoismus, die Herrschsucht und die Trägheit des Herzens zu bekämpfen, damit das Böse nicht auf den Partner übergreift, ihn ansteckt oder verdirbt. Wenn diese Bereitschaft zur persönlichen Besserung da ist, wird es normalerweise möglich sein, auch das Eheleben beständig zu verbessern. Für eine glückliche Ehe ist also nicht in erster Linie wichtig, was zu tun ist, sondern wie man sein soll. Und der entsprechende Ausgangspunkt dafür ist die Bereitschaft, sich vom Partner „besiegen“ zu lassen, und zwar aus Liebe, in dem Wissen, dass Güte wiederum Güte hervorruft und Hingabe ihrerseits Hingabe weckt.


Eine Beziehung, in der nur einer sich schenkt oder nur einer empfängt, ist nicht ausgewogen, und im Grunde kann man gar nicht von Liebe sprechen. Die wahre Liebe lässt uns geben wie empfangen, sie lässt uns fühlen, dass wir jemanden brauchen und dass jemand uns braucht. Sie ist wie eine hin- und herfließende Strömung, eine ständige Bewegung des Gebens und Empfangens, die zwischen zwei Menschen entsteht, die sich auf Augenhöhe begegnen.


2. Einheit von dreien


Aber der „Andere“ schlechthin, dessen Gegenwart die Ehe von Christen zuinnerst belebt, ist Gott selbst. Zu einer tiefen und vollständigen ehelichen Verbindung gehören drei. Das Versprechen von zwei Christen vor Gott bindet sie nicht nur an den Partner, sondern in gewisser Weise binden sich beide über den jeweils anderen zugleich an Jesus Christus, geben sich nicht nur gegenseitig, sondern durch den anderen Menschen auch Christus hin. Die Ehegatten leben nicht nur für den anderen, sondern sie leben gemeinsam für Christus; durch ihre eheliche Liebe lieben sie auch Christus. Daher kann jeder von ihnen Gott durch den Partner entdecken, kann in seiner Haltung erspüren, wie sehr Gott ihn liebt, und in seinem Verhalten die Zärtlichkeit Gottes erfahren.


Zweifellos ist die religiöse Dimension etwas so Tiefes, dass es manchmal nicht leicht ist, die rechte Weise zu finden, den Partner daran teilhaben zu lassen. Wenn es den beiden zur liebevollen Gewohnheit wird, ehrlich miteinander zu sprechen, wird das eine große Hilfe sein, sich unter dieser Perspektive anzusehen und im Anderen diese Tiefendimension zu sehen. Es kann sie ermutigen, dem letzten Sinn ihrer Ehe auf die Spur zu kommen, die Liebe Gottes in Fülle anzunehmen, sein Geschenk an mich, das du bist, und sein Geschenk an dich, das ich bin.


Aber Gott hat nicht nur einen Plan für mich oder für dich; er hat auch etwas für uns vor. Er ruft die christlichen Eheleute, gemeinsam Zeugnis von ihrer Liebe zu geben, Widerschein seiner beständigen Sorge für die Menschen zu sein. Er lädt sie ein, Abbild Christi zu sein – zuerst füreinander und dann gemeinsam für die Anderen. „Wir möchten aus unserem Haus einen Ort der Begegnung mit Gott und mit den anderen machen, mit Kleinen und Großen, mit Gesunden und Kranken, einen Ort der Arbeit, der Erholung und des Feierns, einen Ort, der offen steht für Arme und Reiche; und vor allem einen Ort des Gebetes,“ sagte einmal eine einfache Frau. Je verbundener die Eheleute untereinander sind, desto mehr werden sie sich diesem Ideal nähern können.


II. SICH DER WIRKLICHKEIT STELLEN


Unser Leben mit einem anderen Menschen zu teilen kann eine große Freude sein; aber es ist auch harte Arbeit. Es ist ein anspruchsvoller, schwieriger Prozess, der viel Geduld erfordert. Der Weg ist lang und führt nicht nur durch sonnige Täler, sondern häufig durch dunkle Wälder, trockene Wüsten und sturmgepeitschte Gebirge. Trotzdem dürfen die Paare, die denken, dass ein Streit bereits das Ende ihres gemeinsamen Lebens bedeutet, neuen Mut fassen: Die Auseinandersetzungen sind gerade die Momente, in denen man entscheidende Fortschritte in der Beziehung machen kann. Jedes Mal, wenn wir ein Hindernis überwinden, machen wir einen weiteren wichtigen Schritt auf unserem Weg der Liebe, der uns noch mehr Fülle und Tiefe schenken wird als der vorhergehende.


1. Die „Krise des Anfangs“


Am Anfang ist die Liebe vielleicht aufgebrochen, weil ich von einem anderen Menschen völlig hingerissen war. Ich habe fast ausschließlich einige seiner äußerlichen Eigenschaften beachtet, sie maßlos übertrieben und alle meine Träume und Sehnsüchte auf ihn projiziert.


Es kann sein, dass umgekehrt dasselbe geschehen ist und der Partner ebenfalls eher unbewusst alle seine Hoffnungen auf ein Wunschbild übertragen hat, das er in mir gesehen hat. Und nun entwickeln wir beide eine Reihe von Verteidigungsmechanismen, um unsere Bedürftigkeit und unsere Schwäche zu verbergen.


Aber das Zusammenleben widersteht weder den Lügen noch dem Schein. Die verschiedenen Situationen des Lebens zu zweit demaskieren recht schnell unsere besonderen „Ticks“ und kleinen Manien, zeigen unsere Mittelmäßigkeit und alle egoistischen Tendenzen, die wir mit uns schleppen.


Nicht wenige Ehekrisen beginnen mit der Desillusionierung, die dieser überschwänglichen Begeisterung für den Partner folgt. Nachdem die erste Phase des „Verliebtseins“ vorüber ist – und diese Schwankung entspricht der menschlichen Psychologie – kann ein radikaler Umschwung in der Paarbeziehung folgen, falls jemand sich ausschließlich auf seine Gefühle gestützt hat. Dann klagen die Eheleute einander an, sich betrogen zu haben. Ihre Beziehung wird zu einer erstickenden Fessel und es häufen sich die gegenseitigen Vorwürfe. Die Begrenzungen des Einen wie des Anderen bekommen im Alltag immer mehr Bedeutung und sind der Grund für unzählige Reibereien, Auseinandersetzungen, Unverständnis, Ärger und Klagen.


In dieser Situation, in der man die Leere der Enttäuschung und eine unerträgliche Frustration empfindet, entsteht möglicherweise eine entgegengesetzte Gefühlsregung: Die rein affektive Liebe kann in Hass umschlagen, der auch rein gefühlsmäßig ist und sich auf genau die Person richtet, die man vorher zu lieben glaubte. „Von der Liebe zum Hass ist es nur ein Schritt,“ sagt die Volksweisheit. Dabei kann es sogar zu Formen von Gewalttätigkeit kommen.


2. Gewalt in den eigenen vier Wänden


Es sind nicht wenige Paare, die diese erste Krise nicht überstehen. Wie erleben ständig mehr Trennungen nach nur einigen Monaten oder wenigen Jahren. Außerdem sind wir leider an die dramatischsten und skandalösesten Geschehnisse gewöhnt, die uns die Medien täglich, angemessen in Szene gesetzt, servieren, um die Sensationslust der großen Masse zu befriedigen: In einem Wutanfall ergreift ein Ehemann eine Waffe und erschlägt seine Frau, ein anderer wirft seine Partnerin aus dem Fenster, und ein dritter verletzt seine Freundin schwer mit dem Messer. Solche Szenen können in jeder friedlichen Kleinstadt passieren, wo dann eiligst die Nachbarn zusammenlaufen, um ihrer Verwunderung und Bestürzung Ausdruck zu verleihen. Und nachdem wir ihren mehr oder weniger ausdrucksstarken Lamenti zugehört haben, kommt die nächste Nachricht, und wir bleiben mit der festen Überzeugung zurück, dass die Gesellschaft mehr zum Schutz der Frauen tun muss...


Ich möchte nicht bestreiten, dass dieser Schutz eine dringende Notwendigkeit darstellt. Aber auf der anderen Seite geben neuere Untersuchungen doch sehr zu denken. Wie eine bekannte deutsche Zeitschrift für Psychologie feststellte, sind es nicht die Frauen, sondern die Männer, die besonders unter häuslicher Gewalt zu leiden haben. (S. Zeitschrift „Psychologie heute“, Juli 2004). Denn die Frauen zeigen offen eine immer stärkere Tendenz zu physischer Gewalt, während ihre Männer es vorziehen, zu der schlechten Behandlung, die sie erfahren, zu schweigen. Vor einiger Zeit hob eine aktive Feministin hervor: „Ich war immer klug genug, nur die Männer zu ohrfeigen, die ausreichend gute Erziehung und Selbstbeherrschung besaßen, den Schlag nicht zurückzugeben.“ (Tageszeitung „Die Welt“, 11. Juni 2004). Abgesehen von dieser erhellenden Aussage ist bekannt, dass man auf unterschiedlichste Weise leiden kann. Sowohl Männer wie Frauen können ihre Familie einem psychologisches Martyrium unterwerfen, indem sie ihr das Leben mit subtilen und kaum „nachweisbaren“ Mitteln zur Hölle machen, als da sind Zwang, Demütigungen, Erpressung oder ständige schlechte Laune.


3. Sich sehr gut kennen


Es ist offensichtlich, dass man sich sehr gut kennen sollte, bevor man sich mit einem anderen Menschen für ein ganzes Leben verbindet. Man muss die Gefahr überwinden, sich nicht darüber Rechenschaft zu geben, worauf seine Attraktivität beruht und dahin gelangen, sich wirklich von der Person des anderen anziehen zu lassen und sich nicht nur auf die Gefühle, die man in Bezug auf sie empfindet, verlassen, auf das subjektive Bild, das die Gefühle in allen Farben ausmalen. Kurz und gut, ich darf meine Gefühle nicht mit der objektiven Wahrheit des anderen verwechseln. Da das manchmal gar nicht leicht ist, erweist es sich dann nicht als ratsam, eine Zeitlang zusammenzuleben, eine „Ehe auf Probe“ zu führen, bevor man heiratet?


Die Tatsachen scheinen zu zeigen, dass dies nicht die Lösung ist. Einer Studie zufolge, die 1997 in Großbritannien durchgeführt wurde, war die Zahl der Scheidungen bei denen, die heirateten, nachdem sie zusammengelebt hatten, sehr viel höher, als wenn dies nicht der Fall gewesen war. Warum ist das wohl so? Wir sind noch nicht in der Lage, den genauen Grund dafür anzugeben; trotzdem können wir einige Vermutungen anstellen. Zusammen zu leben ohne letzte Bindung steht letztendlich unter dem Zeichen eines gewissen Misstrauens. Wenn zwei Menschen zusammen leben, ohne verheiratet zu sein, bleibt in einem Winkel ihres Herzens zumindest ein Rest von Unsicherheit und Verdächtigung. Eine Frau sagte mir einmal, dass sie jede Nacht Angst habe, ihr Freund würde nicht zurückkommen. Und warum heiraten sie nicht? Warum sind sie ihrer Liebe nicht sicher? Wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass dies eine Beleidigung des Partners darstellt. Es ist als sagte man ihm: „Heute liebe ich dich. Aber ich weiß nicht, ob ich dich morgen (oder in zehn Jahren) noch lieben werde, und deswegen möchte ich mir lieber Scherereien ersparen.“ Es ist eine wirkliche Beleidigung, auch wenn viele Theorien entwickelt werden und man zahlreiche ideologisch gefärbte Erklärungen zu diesem Tatbestand zu geben pflegt. Im Grunde wissen die Menschen, die zusammenleben, dies sehr gut, und in der Tat erkaltet die Liebe oft nach einigen Jahren – unter anderem, weil sie in einem Klima des Misstrauens nicht wachsen kann.


Kehren wir zu der Ehe zurück, die durch die erste Krise geht. Einer weit verbreiteten Meinung zufolge hört das gemeinsame Leben auf, wenn die „Liebe“ aufhört. Diese von einer Vielzahl von Medien immer wieder proklamierte Botschaft hat eine so große gesellschaftliche Unbeweglichkeit hervorgebracht, dass sie die meisten Leute unfähig macht, selber nachzudenken.


Denn es gibt sehr wohl eine Alternative. Trotz aller Enttäuschungen kann man den Wunsch neu beleben, an der Seite des Menschen zu bleiben, an den man sich gebunden hat. Dazu ist es jedoch nötig, an die Heilkraft der Liebe zu glauben und sich der Wahrheit zu stellen.


Die Eheleute müssen eine tiefe und ehrliche Begegnung suchen, sich zusammen setzen, um sich wirklich kennen lernen, damit sie sich lieben können. Das ist nicht leicht, aber beide müssen unbedingt über die negativen Erfahrungen sprechen, die sie gemacht haben, über die Wunden, die häufig das eigene Verhalten determinieren und das spontane Verhalten im Zusammenleben blockieren. Jeder von ihnen hat eine persönliche Geschichte, die unter anderem stark geprägt ist von den Erlebnissen in der eigenen Ursprungsfamilie, die  – zum Guten wie zum Schlechten – die Grundlagen für seinen Charakter gelegt hat. Nur eine große Offenheit hinsichtlich dessen, was wir sind, was wir fühlen, was wir denken, was wir glauben, was uns gefällt und was uns schmerzt, was wir in der Vergangenheit erlebt haben und wovon wir für die Zukunft träumen, kann eine Basis für einen neuen Anfang schaffen. Die wahre Liebe geht von der Wirklichkeit aus. Sie schaut nicht nur auf die sichtbare körperliche Schönheit, sondern bezieht die innere Schönheit, die „ganzheitliche Schönheit“ des anderen Menschen mit ein. Jede menschliche Person hat ihren Wert in sich selbst, ist eine Welt, die es wert ist, entdeckt, angenommen und geliebt zu werden.


Es kann sehr schwer fallen, von dem zu sprechen, was man denkt und fühlt, und jeder von uns hat die Tendenz, nicht ganz offen zu sein, denn wir glauben, dass wir weniger geliebt werden, wenn wir uns ganz öffnen. Doch in Wirklichkeit geschieht das Gegenteil: je besser wir einander kennen, desto lieber werden wir uns haben; und je mehr wir uns zu erkennen geben, mit all unserer Armseligkeit und Bedürftigkeit, um so freier und sicherer werden wir uns in der Gegenwart des Anderen fühlen. Es gibt keine echte eheliche Liebe, bis nicht jeder auch die Schwäche des Anderen annimmt und liebt. Lieben bedeutet, sensibel zu sein für die Verwundungen des Partners.


Die Zärtlichkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Liebe, der in der Ehe nicht fehlen darf. Karol Wojtyla beschrieb sie als „die Kunst, den anderen in seinem persönlichen Sein, in allen Empfindungen seiner Seele zu erspüren und zu verstehen und dabei immer an sein wahres Gut zu denken“. (F. Guerrero, Das Geheimnis der Liebe in der Philosophie von Karol Wojtila, Madrid, 2001). Die Zärtlichkeit und das Lächeln bringen uns einander näher, sie machen uns menschlicher.


Was wir unbedingt beachten müssen, ist, niemals etwas vom Anderen zu verlangen, was er uns nicht geben kann, so sehr er uns auch liebt, da er begrenzt ist, wie auch wir es sind. Und: Die wahre Liebe zeigt sich nicht in Sätzen wie: „Ich liebe dich, weil du ein hübsches Gesicht hast, weil du gebildet, musikalisch oder sportlich bist“. Die wahre Liebe lässt uns sagen: „Ich liebe dich, weil du du bist.“


III. DIE EHELICHE INTIMITÄT


In einer gelungenen Ehe verwirklicht sich die Einheit der Eheleute in allen Dimensionen des Menschseins. „Und die zwei werden ein Fleisch sein.“ ( Eph 5, 31). Die Sprache der Bibel ist direkt und eindeutig. Sie bezieht sich auf die geschlechtliche Vereinigung, die für die eheliche Liebe konstitutiv ist, und auf den durch diese Vereinigung gezeugten Nachkommen, der in seinem genetischen Erbgut – das zur Hälfte vom Vater und zur Hälfte von der Mutter kommt – eine vollkommene Verschmelzung der beiden aufzeigt. Wenn zu der leiblichen Intimität eine psychische und geistige Nähe kommt, ein intellektueller und gefühlsmäßiger Zusammenklang, dann kann die Beziehung als gesund erachtet werden.


Das Kind ist die natürliche Frucht der ehelichen Liebe. Aber auch ein Ehepaar, dem es trotz seiner Offenheit neuem Leben gegenüber nicht möglich ist, Kinder zu bekommen, kann glücklich werden. Die Eheleute sind nicht nur berufen, ihren Nachkommen „Leben zu schenken“, sondern auch einander. Ihre Einheit bringt nicht nur natürliche Früchte hervor, sondern auch geistige, deren erste gerade diese Einheit der beiden ist.


1. Gemeinsam leiden


Wenn einer der Ehegatten keine Kinder bekommen kann und der andere diese natürliche Gegebenheit nicht akzeptiert und auf alle mögliche Weise versucht, Nachkommen zu haben – was heutzutage auf künstlichem Weg immer leichter erreichbar ist –, kann dieses Verhalten einen tiefen Abgrund zwischen dem Paar aufreißen; denn der eine verwirklicht seine Wünsche, ohne den anderen mit einzubeziehen. Ein Ehemann, der sich in dieser schmerzlichen Lage des „Ausgeschlossenseins“ befand, sagte einmal zu mir: „Jetzt verstehe ich, dass die Ehe eine Schicksalsgemeinschaft ist, und dass sie das auch sein muss; wenn einer der beiden keine Kinder haben kann, dann können wir sie nicht haben.“ In der Tat ist die Liebe ihrer Natur gemäß zweiseitig, sie ist ein Geschenk, dass zwei Personen einander machen. Nur dann wird die unmittelbare Basis geschaffen, von der aus ein Wir entstehen kann, das einmalig ist.


Es fördert das Wachstum der Liebe, wenn wir nicht nur die schönen und angenehmen Seiten des Lebens zusammen genießen, sondern auch die unerwarteten und schmerzlichen Ereignisse, die das Leben des Menschen erschüttern, gemeinsam tragen. Viele Ehen gehen auseinander, nachdem sie durch eine Zeit äußerster Leiden gegangen sind. Andere Paare hingegen wachsen in ähnlichen Umständen zusammen, stützen sich gegenseitig und binden sich enger aneinander. Diese unterschiedlichen Reaktionen hängen von den Grundhaltungen der Eheleute ab.


Wenn wir bewusst Ja zum Leben sagen und bereit sind, auch sein härtesten Aspekte anzunehmen, sind wir in der Lage, einen inneren Reifeprozess zu beginnen, und unsere Persönlichkeit zu entwickeln. Normalerweise leben wir in ziemlicher Abhängigkeit von äußeren Einflüssen: Radio, Fernsehen, Leuchtreklame, Handys und Internet lenken ständig unsere Aufmerksamkeit auf sich und halten uns in Bewegung. Oft bleibt uns keine Zeit, allein und mit dem Partner über die Eindrücke, die sich überschlagen, nachzudenken und zu sprechen. Ein schmerzliches Ereignis kann uns zu einer Pause zwingen. Wir sehen uns mit uns selbst konfrontiert und dazu herausgefordert, unser Leben neu zu ordnen. Es ist nicht mehr möglich, uns zu täuschen, der Schmerz lässt uns die Dinge mit scharfer Deutlichkeit wahrnehmen, das Nebensächliche macht dem Wichtigen, dem Wesentlichen, Platz. Eine Volksweisheit sagt: „Du siehst alles anders mit Augen, die geweint haben“; du kannst alles besser und deutlicher sehen.


Als Christen wissen wir, dass Gott den Schmerz nicht will. Trotzdem lässt er ihn zu. Das Kreuz nimmt einen zentralen Platz in unserem Leben ein. Es ist ein Geheimnis der Liebe, nicht der Furcht. Es ist das Geheimnis eines Gottes, der sich solidarisch mit unserem Leiden erklärt und dessen Liebe so groß ist, dass er sein Leben für uns gibt. Seither haben Schmerz und Tod in der Welt nicht das letzte Wort. Nach dem Kreuz kommt die Freude der Auferstehung, eine Freude, die kein Ende kennt. Wer ein solches Vertrauen besitzt, ist unbesiegbar und in seinem Inneren unverletzlich. Wer kann ihn besiegen, wenn diese Niederlage in Wirklichkeit der Schritt zu seinem endgültigen Sieg darstellt?


2. Die Macht des Vertrauens


In einer Ehe ist es ungemein wichtig, dass jeder der Partner sich dem anderen überlassen kann in der Gewissheit, auf dieser Welt von diesem Menschen am meisten geliebt zu sein. Gleichzeitig müssen sich beide gegenseitig zu verstehen geben – und das vor allem in Situationen, wo sie unterschiedlicher Meinung sind: „Ich möchte, was für dich gut ist.“


Die Liebe muss vertrauen können, sie muss sich in Sicherheit wissen und fühlen, dass sie „Rückendeckung“ hat. Wenn jeder der Partner weiß, dass er mit dem anderen rechnen kann, egal was passiert, dann werden normalerweise beide fähig sein, energisch und optimistisch alle Probleme, auf die sie stoßen, anzugehen. Für den, der liebt, ist es eine Quelle des Friedens und der Freude, auf den Anderen vertrauen zu können und in ihm einen Freund zu haben, der ihn nie enttäuschen wird.


Wir müssen an die Fähigkeiten des Anderen glauben und ihm das auch zu verstehen geben. Manchmal stellt man beeindruckt fest, wie sehr ein Mensch sich ändert, wenn man ihm Vertrauen schenkt; bis zu welchem Grad er sich verwandelt, wenn man ihn dem vollkommenen Bild gemäß behandelt, das man sich von ihm gemacht hat. Es gibt viele Menschen, die es verstehen, ihren Ehepartner aufzubauen, indem sie ihn diskret und ruhig bewundern und ihm so die Gewissheit vermitteln, dass es viel Gutes und Schönes in ihm gibt. Und sie helfen ihm geduldig und ausdauernd, diese positiven Ansätze weiter zu entwickeln.


Es ist wirklich so: Nur den Menschen, den wir lieben, schauen wir recht an. Dann leuchten seine besten Eigenschaften auf, selbst solche, die man nicht für möglich gehalten hätte. Niemand bleibt derselbe, wenn er mit Liebe angeschaut wird, denn er möchte sich dieses Blickes würdig erweisen und ihn verdienen, denn er scheint aufzudecken, was niemand vorher entdeckt hat und bringt ans Tageslicht, was man tief in seinem Innern trägt.


IV. SICH DEN HINDERNISSEN STELLEN


Eine Beziehung wurde einmal mit einer Sprungfeder verglichen: am Anfang ist sie sehr hart, aber sie gibt immer mehr nach, und schließlich muss man sie häufig erneuern, damit die Einzelelemente nicht völlig auseinanderfallen.


1. Die „Krise der Routine“


Nach einiger Zeit kann es zur so genannten „Krise der Routine“ kommen. Wir stellen fest, dass jeder Montag, jeder Dienstag und jeder Mittwoch gleich sind, dass der andere immer gleich reagiert, dass er immer dieselben Witze und dieselben Geschichten aus seinem vergangenen Leben erzählt. Und wir wissen schon zur Genüge, wie er denkt und was er fühlt. Das tägliche Einerlei wirkt ermüdend, Langeweile stellt sich ein. Die Ehe scheint nicht das zu bieten, was wir uns von ihr erhofft hatten. Statt uns in ein „leidenschaftliches Abenteuer“ eingeschifft zu haben, leben wir scheinbar in einem immer engeren System und erleiden eine Form von Eingesperrtsein.


In dieser Lage können uns absurde und ganz unwichtige Dinge auffallen und schließlich zu einer Obsession werden, wie etwa die Art und Weise, wie der Partner Papiere ordnet, gestikuliert oder Wasser trinkt, geht oder dreinschaut. Nichts davon spielt sich auf der Ebene des Verstandes oder der Logik ab; im Gegenteil, die meisten Konflikte dieser Art sind rein gefühlsmäßiger Natur. Das Gefühl des Überdrusses kann so groß werden, dass es in uns eine heftige Abwehrhaltung hervorruft: „Mich stört dein Verhalten dermaßen, dass ich nicht mehr zu sehen vermag, wer du eigentlich bist.“ Und die Liebe sinkt auf den Gefrierpunkt.


Wir müssen diese Gefahr unbedingt rechtzeitig bemerken und entschieden gegensteuern, voller Verständnis und mit Humor. Zuerst einmal versuchen, wieder die positiven Seiten des Partners zu entdecken, sie hervorzuheben und sogar mit der Lupe zu sehen. Und dann müsste uns etwas einfallen, damit dieser Montag ein anderer Tag wird und ein wunderbarer dazu. Man muss das Eis brechen, den Morgen mit einem aufmunternden Wort beginnen, einen Ausflug organisieren oder ein Fest veranstalten, selbst wenn nur drei Kekse im Schrank sind. Die Liebe nährt sich von Überraschungen.


2. Eine angespannte Atmosphäre


Das Normale in einer Beziehung zwischen lebendigen Menschen ist nicht der absolute Friede. Abgesehen von der Routine können sich uns viele andere Hindernisse in den Weg stellen, wie zum Beispiel die Eifersucht, die Unfähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, das Bedürfnis nach Zuwendung und Aufmerksamkeit in einer hektischen Welt, Stress und ständiger Zeitmangel, Groll und Verbitterung, die Angst, verlassen zu werden oder möglicherweise allein zurückzubleiben, die fixe Idee, nicht geliebt zu werden oder für niemanden wichtig zu sein. So entsteht eine Atmosphäre, in der die Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Zuweilen sind wir so von uns selbst besessen, dass nur zählt, was wir meinen, denken, tun oder wünschen. Wir hören dem anderen lustlos zu und antworten nur mit Allgemeinplätzen. Und es kann passieren, dass jeder der beiden seine eigene Fluchtmöglichkeit sucht und findet: seine Arbeit, seine Reise, sein Hobby, seine Blutsfamilie, seine alten Freunde, eine neue Liebe... keiner will vom anderen abhängen, man will ihn auf keinen Fall nötig haben, und so widmet sich jeder der Pflege des eigenen Ich.


Manchmal ist das Scheitern einer solchen Ehe unvermeidlich, und die (zeitliche) Trennung der Ehegatten stellt das allerletzte Hilfsmittel dar. Wenn sie sich als Christen verhalten, werden sie die volle Bedeutung des Ehebundes anerkennen, den sie geschlossen haben, und dieses  Band voll und ganz respektieren; aber zur gleichen Zeit machen sie eben die schmerzliche Erfahrung, dass es ihnen unmöglich ist, in einer Situation, die sie selbst im Laufe der Zeit verursacht haben, weiter zusammen zu leben. In einem solchen Fall werden die Eheleute ihren Kindern zu verstehen helfen, dass die Ermüdung und die Schwäche ihrer Eltern nicht stärker sind als die Gnade Christi, die sie trotz der physischen Entfernung weiterhin verbindet. (1)


Nun ist es in den meisten Fällen nicht nötig, zu diesen extremen Maßnahmen zu greifen. In einer schwierigen Situation gilt es vor allem, nicht zu resignieren und wie versteinert vor dem gescheiterten Lebensentwurf zu verharren. Jede Ehe geht durch Zeiten der Fülle und durch Augenblicke des Zweifels und der Unsicherheit. Die Liebe braucht Zeit; sie wächst langsam. Verzögerungen oder gar Rückschritte auf dem Weg sind das Normale. Zuweilen fallen wir von einer Krise in die nächste und können uns am Ende völlig hilflos und verlassen vorkommen. Aber mit einem Minimum an gutem Willen von beiden Seiten können die Probleme eigentlich immer gelöst werden. Theresia von Avila spricht aus eigener Erfahrung, wenn sie gesteht: „Es hat zwanzig Jahre gedauert, bis eine Vernunftehe zu einer großen Leidenschaft wurde.“


Es ist wichtig, an sich selbst Forderungen zu stellen. Das bedeutet etwa, uns Rechenschaft über unsere unverhältnismäßigen Reaktionen zu geben, um Verzeihung zu bitten und selbst zu verzeihen, für das kleinste Bemühen des Partners dankbar zu sein und uns anzugewöhnen, ihn zu fragen: Was erwartest du von mir? Es ist auch nötig, aufmerksam zuzuhören, zusammenhängende Antworten zu geben und immer mehr Verständnis für die Fehler des anderen aufzubringen. Die Kunst besteht darin, zu wissen, wann es angebracht ist nachzugeben und wann nicht, die Situationen zu unterscheiden, in denen es sich lohnt, sich mutig mit einer Schwierigkeit auseinanderzusetzen, und wann es ratsam ist, einen unpassenden Kommentar zu überhören oder ein provozierendes Benehmen zu übersehen.


V. DIE BEGEISTERUNG AUFRECHT ERHALTEN


In jedem Fall gilt es, festgefahrene Situationen zu vermeiden, die entstehen, weil man zu lange Zeit verstreichen lässt, bevor man sich ihnen stellt. So bald wie möglich sollten wir uns die entscheidende Frage stellen: Wie werden wir unseren Entschluss, zusammen glücklich zu werden, in die Tat umsetzen?


1. Wieder fähig werden, wie Kinder zu sein


Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Wunden der Liebe nur durch Liebe geheilt werden können. Im Prinzip muss man keine großen Dinge im Leben ändern; der Partner braucht normalerweise kein neues Auto oder einen Pelzmantel. Er möchte im Gegenteil etwas mehr Aufmerksamkeit, ein kleines Zeichen der Liebe und des Verständnisses. Wenn die Spurenelemente im menschlichen Körper fehlen, dann kann man, so winzig sie auch sind, schwer erkranken und sterben. Analog können wir von „Spurenelementen“ in der Atmosphäre eines Zuhause sprechen. Es sind jene kleinen Dinge, die nur schwer nachzuweisen und noch weniger einzufordern sind – wie etwa ein herzliches Lächeln, ein anerkennender Blick oder ein ermutigendes Wort –, durch die der Partner sich wohl fühlt, sich geliebt und geschätzt weiß, und durch die er erfährt, dass es jemanden gibt, der sich wirklich für seine Arbeit, seine Schwierigkeiten und alles, was er im Herzen trägt, interessiert – weil er eben für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt ist.


Es ist sehr ratsam, den Austausch zu pflegen und gewohnheitsmäßig Zeit einzuplanen, um über die Ereignisse des gemeinsamen Lebens zu sprechen – über das Wichtige und das, was weniger wichtig ist. In einem Klima des Vertrauens kann man alle Probleme mit Einfachheit ansprechen, ohne zu verallgemeinern, ohne zu dramatisieren. Dabei sollte man vermeiden, was den anderen verletzen könnte, und eine große Sensibilität entwickeln für alles, was der andere sagt und was er sagen möchte. Das Wort, das in ihm bleibt, kann nämlich das entscheidende sein. Daher müssen wir uns darin üben, „zu sehen, zu hören, zu empfinden, wie sich hinter einem Gefühl, das gezeigt, hinter einer Gesinnung, die ausgedrückt wird, anderes verbirgt – und vielleicht hinter dem noch einmal Anderes.“ (Romano Guardini, Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens, Würzburg 1963, S. 112)


Die Liebe heilt, sowohl, wenn man sie gibt, als auch wenn man sie empfängt. Es gibt Augenblicke, in denen es nötig ist, wieder wie die Kinder zu werden, sich zusammen einen Spaß daraus zu machen, kleine Verrücktheiten zu unternehmen und sich von neuem von der Liebe des Partners erobern zu lassen. Es ist wichtig, eine Vorliebe zu teilen, sei es für die Berge oder das Meer, Fotografieren, Theater oder Musik; zusammen Pläne zu schmieden und zu träumen, und auch gemeinsame Freunde zu haben. Ich kenne ein Ehepaar mit sieben Kindern, das jede Woche einmal in die Diskothek geht, um zu tanzen wie „zur Zeit, als wir befreundet waren“.


Es ist ganz wichtig, „kehrtzumachen“, „zurückzukehren“ zu dem Augenblick, in dem die Freundschaft begann. Dann sind wir in der Lage, die Bindung aus Liebe zu erneuern; von neuem aus ganzem Herzen Ja zu ihr zu sagen. Der Philosoph Dietrich von Hildebrand trifft die Sache ziemlich gut, wenn er sagt, dass jede Erneuerung der Liebe eine Rückkehr zum Anfangsmoment mit seiner tiefen Vibration, seiner Begeisterung und seinem glühenden Eifer einschließt. Natürlich kann ich die Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich auf dem Lebensweg gemacht habe, nicht verleugnen. Wenn ich das „Ja“ des Anfangs wiederhole, dann tue ich es ganz bewusst und wenn möglich, freier als das erste Mal, mit der Begeisterung der Jugend und der Reife, die die Jahre vermitteln. Mit der Zeit nimmt die Kraft der Liebe zu, denn wir wollen lieben und wir sind auch bereiter, uns dem geliebten Menschen selbstloser hinzugeben. Doch dem widerspricht nicht, dass unser Leben weiterhin von der Leidenschaft der Liebe getragen ist und diese Begeisterung sich auf alle anderen Tätigkeiten überträgt.


2. Zusammen alt werden


Gerade heutzutage, da aufgrund der höheren Lebenserwartung die Ehe unter Umständen länger andauert als in vergangenen Zeiten, ist es äußerst angebracht, das Ja häufig zu erneuern, besonders wenn man in eine neue Phase des gemeinsamen Lebens tritt. Etwa wenn das erste Kind geboren wird oder sich die berufliche Situation ändert, wenn eines der Familienmitglieder krank wird, wenn das letzte Kind aus dem Haus geht und das Rentenalter sich ankündigt... Eine lang andauernde Beziehung kann nur lebendig bleiben, wenn die beteiligten Personen bereit sind, sich auf die Wechselfälle, ohne die kein Leben abläuft, einzustellen, wenn sie nicht aufhören zu lernen und zu wachsen. Man muss sich mit einer gewissen Flexibilität an die immer neuen Situationen anpassen – zum Beispiel sich von der physischen Präsenz der Kinder lösen, wenn die Zeit gekommen ist – und sich nicht an einen Lebensstil klammern, der gestern vernünftig war, heute aber nicht mehr angebracht ist. „Leben heißt, Veränderungen unterworfen sein – sagt Kardinal Newmann – und vollkommen sein bedeutet, sich oft verändert zu haben.“ (J.H. Newmann, zit. in I.F. Görres, Von Ehe und von Einsamkeit, 2a Aufl., Donauwörth 1950, S. 31).


Die Tatsache, dass jemand mir versprochen hat, bis zum Lebensende an meiner Seite zu bleiben, schließt für mich die schwere Verpflichtung ein, mich neuen Herausforderungen zu stellen und mich Besserungen und Reifeprozessen nicht zu verschließen. Die Ehe ist in einem gewissen Sinn ein Prozess, der seinen Ursprung in dem Versprechen hat, den Lebensweg gemeinsam zu gehen. Das heißt nicht nur, dass man „zusammen bleiben“ muss, sondern verlangt auch, dass man „geht“. Wir haben den Wunsch, für den anderen immer besser zu werden; und ebenso, dass der Mensch, den Gott uns für das ganze Leben anvertraut hat, seinerseits immer mehr so wird, wie er sein soll.


Die Herausforderung besteht darin, nach und nach zu entdecken, wie schön es ist, zusammen alt zu werden, das Leben Seite an Seite ruhig „aufzubrauchen“. Die letzte Lektion besteht darin, die sich aufgrund des fortschreitenden Alters einstellenden Begrenzungen – die eigenen wie die des Partners – ohne Bitterkeit und Vorwürfe anzunehmen. Und dazu sind wir fähig aufgrund all des Verständnisses, der Geduld und der Zärtlichkeit, die wir im Laufe der gemeinsamen Jahre angesammelt haben.

Bis zum Ende des bewusst geführten Lebens können sich die Ehepartner gegenseitig unermüdlich helfen, alles gemeinsam anzugehen: suchen, finden, lernen, sich entwickeln. Und im besten Fall gelangen sie gemeinsam zur geistig-geistlichen Reife.

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(1) Im Fall einer Scheidung liegt der Fall völlig anders, denn diese schließt de facto ein Urteil über die 1 Fähigkeit Christi ein, die Eheleute für immer zu vereinen. „In diesem Sinn stellt die Scheidung immer eine unverhältnismäßige Wahl dar, denn wer von uns kann sagen, dass die Schwierigkeit, durch die wir gehen, stärker ist als die Gnade Christi?. Die Scheidung führt ein Urteil dieser Art in das Leben der Eheleute und der Kinder ein. Wir stehen dann nicht mehr nur vor einer moralischen Schwäche.“ (A. Scola, Die „entscheidende Frage“ der Liebe: Mann-Frau; Madrid, 2003).