Folgenden Artikel habe ich irgendwann in den Nullerjahren von Jutta per Mail bekommen. Die Worte des Artikels (Jutta wusste nicht, wer ihn geschrieben hat und was es genau bedeutet) haben ihre Arbeit lange Jahre inspiriert.
Säkularität
I. Allgemeines über die Säkularität.
1. “Gott sah, was er geschaffen hatte, und siehe, alles war sehr gut“. Aus dieser Aussage der Genesis geht der hohe Wert hervor, den die geschaffenen Wirklichkeiten (die ganze Welt der nichtsakralen Dingen) vor Gott haben. Die Bejahung dieses Wertes (letztlich ein Akt der Nachahmung Gottes, des Schöpfers) begründet die Säkularität. Die Säkularität ist die Geisteshaltung, die den Menschen ermöglicht, Gott in der Schöpfung, d.h. konkret in den nichtsakralen Dingen, zu entdecken. Und andersherum ermöglicht die Haltung der Säkularität die Einsicht, dass die ganze Schöpfung der nichtsakralen Dinge die Fähigkeit in sich trägt, Begegnungsort des Menschen mit Gott zu sein. Das Säkulum, die Welt, das Materielle wie das Geistige, das Physische wie das Psychische, alles Erschaffene, das mit dem Menschen zu tun hat, trägt in sich einen direkten Bezug auf Gott und bedarf dafür keinerlei sakrale Umformung. Dies zu erfassen, vermögen diejenigen, die die Haltung der Säkularität haben. Die Wertschätzung der Wirklichkeit der nichtsakralen Dinge als Wege zu Gott ist Bestandteil der sog. Theologie der Schöpfung und liegt dem Begriff der Säkularität zugrunde.
2. Die Tatsache, dass die Zweiten Person der Dreifaltigkeit eine menschliche Natur angenommen hat, stellt den Wert des rein Natürlichen endgültig und unanfechtbar unter Beweis. Seit Gott in Jesus Christus wahrer Mensch geworden ist, ist das Menschliche, ist das Natürliche vergöttlicht. Diese Überlegung führte den sel. Josemaría zu der Aussage, seitdem Gott Mensch geworden sei und als wahrer Mensch gelebt habe, gebe es keine menschliche Wirklichkeit mehr (außer der Sünde), die nicht zugleich irgendwie “göttlich“ wäre. Diese Überlegung bezüglich des hohen Wertes der natürlichen Wirklichkeiten ist eine wichtige Aussage der Theologie der Erlösung (der Erlösung der nicht sakralen Welt) und liegt dem Begriff der Säkularität zugrunde.
3. Nach langanhaltender und zumeist einseitiger Betonung des Sakralen als Ort der christlichen Existenz begann der sel. Josemaría Ende der 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Wende im Verständnis der materiellen Wirklichkeiten der Schöpfung in der Kirche zu vollziehen. Nicht allein das Sakrale sei Ort christlicher Existenz, sondern auch das Nichtsakrale, die Welt “außerhalb des Gottestempels“. Für die überwiegende Zahl der Getauften sei die “Welt draußen“ ihre “natürliche Heimat“ und damit der Ort, wo sie Jesus Christus begegnen würden, der Ort, wo ihre christliche Existenz sich abspielen würde.
4. Das war die Renaissance der Säkularität in der Geschichte der Kirche. Dadurch wurde der Wert des Natürlichen neu entdeckt. Wer die Tugend der Säkularität besitzt, hat eine positive Einstellung zum Weltlichen. Wie Gott am Anfang der Geschichte erkennt er, dass alles sehr gut ist.
5. Das vom sel. Josemaría auf göttliche Eingebung hin gegründete Opus Dei möchte den Wert des Säkularen verkündigen. Das ist das Charisma, d.h. der göttliche Auftrag des Opus Dei: zu verkünden, dass der normaler Bürger mitten in der Welt zu einer tiefen Gottverbundenheit gelangen kann, und zwar gerade in dieser Welt und durch die Handhabung der Welt; theologisch ausgedrückt heißt es, dass die Heiligkeit mitten in der Welt möglich ist. Deshalb gehen Opus Dei und Säkularität Hand in Hand. Denn das Opus Dei ist von Gott ins Leben gerufen, gerade um den Wert des Säkularen für die Heiligung der Menschen sicherzustellen. Das Opus Dei ist tatsächlich nicht entstanden, etwa um die Rechtgläubigkeit in der Verkündigung des Glaubens und der Sitten zu gewährleisten (das ist Aufgabe der gesamten Kirche, allen voran des Lehramtes, und es gibt schon zahlreiche Institutionen, die sich dies zur Aufgabe gemacht haben). Das Charisma des Opus Dei ist ein anderes. Es besteht darin, den Wert des Weltlichen als Weg zum Göttlichen zu verkünden. Nicht ohne Grund hieß eine der ersten Bücher über das Opus Dei: “El valor divino de lo humano“. Die Säkularität ist die Geisteshaltung, die aus der Bejahung des Menschlichen als Weg zum Göttlichen und als Ort der Begegnung mit Gott hervorgeht. Deshalb ist die Säkularität für das Opus Dei so etwas wie die Luft für die Lungen, so etwas wie das Wasser für die Fische.
6. Wenn die Säkularität tatsächlich zum Gründungscharisma des Opus Dei gehört, dann stellt deren Bewahrung und Pflege eine wesentliche Pflicht für alle im Opus Die dar. Denn das Opus Dei steht und fällt mit der Säkularität. Um die Säkularität seiner geistlichen Kinder zu verteidigen und zu schützen, hat unser Gründer tapfer und glaubenstark sozusagen bis über die Schmerzensgrenze hinaus ausgehalten. Wie leicht wäre es für ihn gewesen, wenn er die Approbation des Werkes als eine neue Ordensgemeinschaft modernerer Zügen zugelassen hätte. Er hätte sich gewiss unzählige Probleme erspart, er hätte den Auftrag Gottes aber verfehlt. Gott wollte, dass die Mitglieder des Werkes “sich in nichts von den anderen Mitbürgern der zivilen Gesellschaft unterscheiden“, wie er öfter formuliert hat. Die Geschichte des Rechtsweges des Werkes in der Kirche stellt das unermüdliche und beharrliche, unerschütterliche und zugleich kluge Ringen des Gründers unter Beweis, die Säkularität der Mitglieder absolut zu gewährleisten. Hier konnte er keine Konzessionen machen.
7. Für das Opus Dei hat die Säkularität also eine grundlegende Bedeutung. Sie hat mit dem Charisma des Werkes wesentlich zu tun. Ja, sie ist ein Merkmal ihres Wesens. Würde das Opus Dei eines Tages die Säkularität verlieren, würde das Werk zusammensacken. Das wäre nicht mehr das Opus Dei, das Gott den sel. Josemaría am 2. 10.1928 hat sehen lassen. Aber auch eine theoretische oder praktische Vernachlässigung der Säkularität würde das Opus Dei erheblich schwächen, wenn nicht in seiner Wirksamkeit geradezu lähmen.
8. Wie könnte rein theoretisch die Säkularität im Werk verloren gehen, bzw. beschädigt werden? Dies könnte auf zwei Wegen geschehen:
a) Wenn die Verkündigung im Opus Dei den säkularen Ansatz tatsächlich aus den Augen verlöre,
bzw. ihn nicht vordergründig berücksichtigte. So etwas könnte rein theoretisch zum Beispiel geschehen, wenn besonders gewichtige geschichtliche Umständen – wie etwa der zunehmende Glaubensverlust auch unter Katholiken -, die Mitgliedern des Werkes dazu veranlassten, in ihrem apostolischen Bemühen sich ganz oder vorwiegend anderen Bereichen des christlichen Gutes zu widmen, etwa der bloßen Weitergabe der rechtgläubigen katholischen Lehre, oder gar der Aufdeckung von Missbräuchen oder Häresien in der theologischen Lehre oder in der seelsorglichen Verkündigung. Das wäre verheerend für das Opus Dei, denn dadurch könnte das säkulare Gründungscharismas des Werkes verblassen. Aber Gott hat das Opus Dei nicht dazu entstehen lassen, dass die Rechtgläubigkeit in der Kirche bewahrt werde, sondern um den Menschen klar zu machen, dass diese Welt, in der wir leben, gut ist, und dass die Menschen in ihr Gott finden können und sie durch eine gemäße Handhabung der irdischen Wirklichkeiten in Kontakt mit Gott treten. In der Verkündigung des Opus Dei muss demnach – ohne Hintansetzung der normalen Verkündigung der christlichen Lehre - stets und vordergründig die wesentliche Lehraussage des Werkes stehen, nämlich dass diese konkrete, säkulare Welt, in der wir leben, der Ort der christlichen Existenz ist, der Ort, wo die Tugenden lebbar sind, der Ort, wo der Christ sich heiligt, d.h. in Gott wächst, ihm ähnlich wird, mit anderen Worten: wo er das Ziel seines Lebens erreicht. Die Einfädelung der großen Inhalte des Glauben in den Stoff des säkularen Alltags, das ist die große Aufgabe des Opus Dei. Der Wirksamkeit des Werkes ist an die Wahrung seines Gründungscharismas gebunden.
b) Die Säkularität ginge ebenso verloren, wenn die Menschen im Opus Dei nicht mehr säkular lebten. Dies wäre der Fall, wenn sie die Wesensmerkmale der Säkularität, wie sie unten noch aufgezeichnet sein werden, nicht mehr beachteten. Das könnte rein theoretisch geschehen, wenn sie eines Tages das “Porro unum necessarium“ im Sinne der Geringachtung des Natürlichen (und einer Flucht aus den Verantwortungen ihrer konkreten Existenz) verstünden und nicht als Auftrag, mitten im Alltag das Herz zu Gott zu erheben.
II. Wesensmerkmale der Säkularität
1. In der Lehre des sel. Josemaría ist die Säkularität der berufungsgemäße Rahmen unseres Daseins und deshalb auch unseres Christseins. Säkularität besagt Liebe zur Welt, jedoch als “Schemel seiner Füße“. Die Säkularität vergötzt nicht das Natürliche, sondern erkennt in ihm seine Fähigkeit, in Verbindung mit Gott gebracht zu werden. Die Welt und das Handeln in der Welt ist für die Mitglieder des Werkes ihr normales Milieu. Der Satz des Gründers: “Unsere Zelle ist die Straße“ darf niemals zu einer Floskel degradiert werden. Wobei man sagen muss, dass unter “Strasse“ nicht nur der (meistens) asphaltierte Weg, an dem die Häuser stehen, zu verstehen ist, sondern die ganze Wirklichkeit des Natürlichen und Weltlichen, mit all dem, was dazugehört.
2. “Gott ist uns in allem gleich geworden außer der Sünde“: Das bedeutet: was nicht sündhaft ist, hat einen Wert in sich, den es zu bejahen gilt. Höhepunkt dieses Wertes des Natürlichen ist seine oben erwähnte Fähigkeit, zu Gott zu führen, ohne dass es sich dabei selbst auflösen müsste. Die Welt hat in sich selbst das Vermögen, in Kontakt mit Gott gebracht zu werden, und auch zu Gott zu führen.
3. Der Begriff der Säkularität ist nicht negativ belegt (nicht Ordensangehöriger zu sein). Das wäre eine grobe, verheerende Verkürzung. Es ist aber nicht unwichtig, daran zu erinnern, dass der sel. Josemaría uns immer wieder sagte, wir seien in das Opus Dei gekommen, unter der Bedingung, keine Ordensleute zu sein. Die Gläubigen des Opus Dei ändern nicht ihren Stand, wenn sie sich dem Opus Dei anschließen. Der Gründer erklärte die Berufung zum Werk so: Es ist wie ein Licht, das in einem dunklem Ort aufgeht. In diesem (neuen) Licht sehen wir alles, was wir sind und haben, nun neu (“tamquam lucerna lucens in caliginoso loco“).
4. Die Säkularität lässt die Welt als gut bejahen. “Gott sah, was er geschaffen hatte, und es war alles sehr gut“ (Genesis). Ein Mensch mit einer säkularen Mentalität liebt die Welt. Beeindruckend sind in diesem Kontext die Texten des sel. Josemaría über die Welt und die weltliche Wirklichkeiten in “Gespräche mit Msgr. Escrivá“, besonders in der Ansprache: “Die Welt leidenschaftlich lieben“. Diese Ansprache gilt nicht ohne Grund als “Grundsatzerklärung“ des Gründers über das Werk. Sie ist deshalb ganz besonders zu beachten.
5. Die Liebe zur Welt ist nicht statisch zu verstehen. Sie umfängt die Welt in ihrer dynamischen Struktur. Wichtiger Bestandteil der Welt ist ihre Veränderbarkeit. Wenn selbst die Kirche “semper reformanda ist“, erst recht ist es die Welt. Unsere Welt verändert sich ständig, dies gehört zu ihrem Wesen. Wer dies nicht sehen will und immer nach dem Alten fragt, als hätte die Geschichte ihm etwas gestohlen, der ist und denkt nicht säkular. Wer hingegen eine säkulare Haltung hat, erkennt Gott in den Neuerungen der Zeit; durch die Neuerungen hindurch hört er die Stimme Gottes. Nur ein Beispiel: die Offenheit, die Transparenz, die Unbekümmertheit ... , die unsere gegenwärtige Gesellschaft prägen, sind das nicht Zeichen dafür, dass Gott uns an den Wert dieser Tugenden erinnern will? In den Veränderungen im menschlichen Verhalten, die der geschichtliche Ablauf der Zeit mit sich bringen, spürt der säkulare Mensch Gott, der ihn auf etwas hinweist, bzw. zu etwas herausfordert. Da er zu den Veränderungen positiv eingestellt ist, bzw. sich nicht prinzipiell dagegen stemmt, fällt es ihm leichter als anderen, in den “Zeichen der Zeit“ die Stimme Gottes wahrzunehmen.
6. Der Ablauf der Geschichte ist in der Tat ein wichtiger Teil unserer Welt. Darum gehört die Annahme der Geschichte zum Begriff der Säkularität. Der säkulare Mensch wehrt sich nicht gegen das Neue. Er weiß, dies gehört dazu, zur Geschichte. Die Geschichte ist der zeitliche Raum, in dem sich die Existenz abspielt. Eine positive Haltung zur jeweiligen geschichtlichen Zeit, mit ihren Bräuchen, ihrer Denkweise, ihren Kulturausprägungen ... gehört zum Wesen der säkularen Haltung eines konsequent denkenden Christen in der Welt. Denn “Gott ist uns in allem gleich geworden außer der Sünde“.
7. Wenn es so ist, dann muss man schlussfolgern: alle Strukturveränderungen in der Gesellschaft, die nicht sündhaft sind, gehören zu der Veränderbarkeit der Welt, eine Dimension, die, wie bereits gesagt, zum Begriff der Welt gehört. Denn Gott hat die Schöpfung dem Menschen anvertraut mit der Auflage, diese zu entfalten, also sie zu verändern. Nicht alle Veränderungen sind akzeptabel. Denn manche, ja vielleicht sogar viele, sind oder führen zur Sünde. Ist das aber nicht der Fall, dann muss der Mensch in der Welt diese Veränderungen bejahen. Das ist eine grundlegende Forderung der Säkularität. Wer hier Probleme hat, muss sich die kritische Frage gefallen lassen, ob er die Säkularität nicht vielleicht verloren haben könnte.
8. Wer heute in der Welt so lebt, wie die Menschen vor beispielweise 20 Jahren lebten, verfehlt einen Befehl des Schöpfers in wichtiger Sache. Er hat die Säkularität nicht verstanden, bzw. verloren. Seine “Treue“ an dem, was früher aktuell war, befreit ihn nicht von dem Vorwurf, er habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt und habe deshalb nicht mit dem Schöpfer mitgearbeitet, der jedem die Aufgabe gegeben hat, diese Welt mit aufzubauen. In der Haltung der Annahme oder Ablehnung der Geschichte der Gegenwart, d.h. der Zeitgeschichte, erkennt man, ob der Mensch säkular gestimmt ist oder nicht. Die Annahme der Geschichte mit ihren Veränderungen ist somit wichtiger Inhalt der Säkularität. In einem Brief an Mitglieder des Werkes unter dem Datum 9.01.1959 schrieb er in Nr. 58: “El cambio de las circunstancias históricas – con las modificaciones que introduce en la sociedad – puede hacer que lo que fue justo y bueno en un momento dado, deje der serlo. De ahí que deba ser incesante en vosotros esa crítica constructiva, que hace imposible la acción paralizante y desastrosa de la inercia".
9. Die Offenheit zur Annahme der geschichtlichen Veränderungen als “Zeichen der Zeit“ betrifft den ganzen Menschen in seiner Vielfältigkeit, d.h. sie streckt sich sowohl auf den inneren wie auch auf den äußeren Bereich. Niemand wird in Frage stellen wollen, dass die geschichtlichen Veränderungen, die der Mensch im Laufe der Geschichte erfährt, sowohl sein Inneres (z.B. Denkweise, Gefühlsleben, Einstellung zu den Mitmenschen, Moralempfinden ...) wie auch sein Äußeres (Ausdruckweise, Kleidung ...) betreffen.
10. Einige Beispiele darüber, wie der Mensch sich in etwa den letzten 30 Jahren verändert hat, möchte ich hier doch anführen. Überflüssig scheint mir der Hinweis darauf, dass die Säkularität die Bejahung derartiger Veränderungen fordert.
· Der Mensch ist selbständiger geworden. Ihm widerstrebt es, verplant zu werden. Er möchte sich selber einbringen, braucht einen Freiheitsraum auch in der Durchführung von Aufträgen. Er will mitdenken, spürt die Verantwortung. Es widerstrebt ihm zutiefst, dass man ihm vorkaut. Er will selber beißen. Da stellt sich die Frage: geht das nicht zu weit? Wird die Tugend des Gehorsams nicht dadurch untergraben? Die Frage ist wichtig, ja sehr wichtig, für das Leben mitten in der Familie (Beziehung von Eltern zu Kindern und umgekehrt) wie auch in kirchlichen Organisationen, die behaupten, keine Ordensgemeinschaften, bzw. keine Gesellschaften des geweihten Lebens zu sein. Wird die Autorität durch den neu gewonnenen Sinn für Selbständigkeit untergraben? Dazu wäre zunächst zu sagen, dass der Gehorsam in einer monastischen Institution, bzw. in einem Orden oder in einem ordensähnlichen Gebilde anders gehandhabt wird als in der zivilen Gesellschaft: etwa in der Familie und in kirchlichen Institutionen, deren Mitglieder ihren Status als Laien, bzw. als säkulare Priester nicht verlieren. Im Gegensatz dazu, verlieren die Mitglieder einer Ordensgemeinschaft beim Eintritt in den Orden die Säkularität. Das ist jedoch in dem Falle der Familien wie auch der Mitglieder von säkularen Institutionen der Kirche (z.B. von Personalprälaturen) ganz anders.
· Ohne Hintansetzung des Gehorsams und seines absolut entscheidenden Wertes in der Erlösung (“durch den Gehorsam des Einen ist das Leben in die Welt gekommen“) ist die Beschaffenheit des Aktes des Befehlens und der des Gehorchens von der Wandlung der jeweiligen geschichtlichen Zeiten nicht ausgenommen. War es in früheren Zeiten üblich, Befehle zu erteilen ohne diese zu begründen, so ist es heute nicht nur in den Familien, sondern überall in der zivilen Gesellschaft so, dass der Befehlsgeber dem Untergebener die Gründe zu erläutern pflegt, warum er den Befehl erteilt. Dadurch wird der Gehorsam in nichts verändert. Es handelt sich nur um einen neuen Stil des Befehlens und des Gehorchens. In diesem neuen Stil wird die Person des Gehorchenden zweifellos mehr berücksichtigt als in früheren Zeiten, wo man in ihm vor allem nur oder vorwiegend den Durchführer dessen sah, was ein anderer (der Befehlsgeber) überlegt und beschlossen hatte.
· Immer mehr Autoritätsträger pflegen heutzutage, sich mit ihren Untergebenern zu beraten, bevor Entscheidungen getroffen werden. Konnte früher ein Chefarzt ein Alleinregierer in seiner Abteilung sein, so ist es heute ganz anders. Er muss sich beraten, zwar nicht im Grundlegensten (die Operation muss er selber durchführen), wohl aber in allem anderen Aspekten des Lebens in der Abteilung, zumal in Personalfragen. Der autoritäre Stil hat dem kollegialen Stil Platz gemacht.
· In seinem Apostolischen Schreiben “Novo millennio ineunte“ geht der Heilige Vater auf den soeben besprochenen Geist der Offenheit im Umgang zwischen Autoritätsträgern und Untergebenen ein. Der Papst bejaht ihn ausdrücklich, mitunter mit eindringlichen Worten. Johannes Paul II. sieht in diesem Geist der Offenheit einen Kristallisationspunkt der von ihm in diesem Schreiben proklamierten “Spiritualität der Gemeinschaft“. Ich verweise hier vor allem auf Nr. 45 des genannten Apostolischen Schreibens. Unter anderem heißt es dort: “Theologie und Spiritualität der Gemeinsacht bewirken nämlich ein wechselseitiges Zuhören zwischen Hirten und Gläubigen. Dadurch bleiben sie einerseits in allem, was wesentlich ist, a priori eins, und andererseits führt das Zuhören dazu, dass es auch in diskutierbaren Fragen normalerweise zu ausgewogenen und gemeinsam vertretbaren Entscheidungen kommt“.
· Zuhörenkönnen ist zweifelsohne eine Eigenschaft der Offenheit des Geistes, die zu den neu gewonnenen Werten unserer geschichtlichen Zeit gehört. Das Zuhörenkönnen des Autoritätsträgers muss jedoch ehrlich sein. Ein Autoritätsträger, der zwar fragt, jedoch von seiner “im eigenen Kämmerlein“ bereits getroffenen Entscheidung grundsätzlich nicht bereit ist abzurücken, nimmt die Person des Untergebenen nicht ernst. Er hätte keinen Geist der Offenheit. Sein Stil fordert geradezu zur Rebellion auf, auf jeden Fall zum Unverständnis. In einer Gemeinschaft von säkularen Bürgern wäre eine solche Haltung auf kurz oder lang nicht tragbar, denn sie wäre ein grober Verstoß gegen die Menschenwürde. Diese haben ein Recht darauf, gehört zu werden, und dass ihre Ansichten bedacht werden. Wer sie reden lässt, ohne die Bereitschaft, ihre Argumente ernsthaft zu überlegen und die Entscheidung evtl. zu überprüfen, nimmt den Menschen nicht ernst, er missbraucht im Grunde seine Macht.
· War es früher so, dass Eltern und Vorgesetzte den Kindern und Untergebenen in der Regel nicht die ganze Wahrheit sagten (etwa z.B. um die Kinder “nicht zu beunruhigen“), so will der heutige Mensch auf gar keinen Fall, dass man ihm etwas verheimlicht, dass man ihm Scheinargumente gibt, etwa “um sein inneres Leben zu schützen“. Das ist in säkularen Einrichtungen der Kirche (z. B. in den Diözesen, Personalprälaturen und dgl. mehr) von großer Bedeutung. Eine Verschleierung der Gründe lässt sich mit der Menschenwürde nicht vereinbaren. Der heutige Mensch kann nicht ertragen, dass man ihn nicht ernst nimmt, dass man mit ihm so umgeht, als wäre er noch ein Kind. Er fühlt sich dann nicht ernst genommen, ungerecht behandelt.
· Dass der heutige Mensch ernst genommen werden möchte, kommt einer Aufwertung des Persönlichen gleich. Das ist sehr zu begrüßen und steht ganz im Einklang mit dem Evangelium. Auf jeden Fall gehört die Aufwertung des Persönlichen zu den Merkmalen unserer Zeit. Der sel. Josemaría hat hierzu Weichenstellendes verkündet. In seinem letzten gedruckten Brief vom 14.02.1974 hat er sinngemäß geschrieben, das Werk sei nicht für Kinder, sondern für erwachsene Christen, die sich vor Gott als Kinder wissen. Damit hat er dem modernen Menschen aus der Seele gesprochen. Die Menschen unserer Zeit wollen nicht wie Kinder behandelt werden, etwa in dem Sinne, das man ihnen immer neue Richtlinien gibt, als würden sie nicht selber in der Lage sein, etwas eigenständig zu verrichten oder zu fragen, wenn sie selber es für sinnvoll halten.
· Der heutige konsequente Katholik, der entsprechend dem Geist unserer geschichtlichen Zeit, das Persönliche besonders schätzt, unterscheidet zwischen dem göttlichen Bereich, in dem er nur Empfänger ist, und dem menschlichen Bereich, in dem er vom Schöpfer zur Mitverantwortung gezogen wurde. Und er will in all dem, was nicht zum göttlichen Bereich gehört, persönlich, d.h. im eigenen Namen handeln. Er will die Verantwortung dessen tragen, was er initiiert hat und tut. Er will sich nicht mehr, wie oft früher, unter dem Schutz des Kollektiven stellen.
· Der säkulare Charakter der Gläubigen einer Diözese, bzw. einer Personalprälatur bringt mit sich, dass das, was sie tun (Ausnahmen bestätigen die Regel) im eigenen Namen tun. Es ist daher absolut zu vermeiden, dass die Gläubigen sozusagen als Handlanger der kirchliche Institution wirken, der sie sich aufgrund des Wohnsitzes (Diözese) oder einer säkularen Hingabe (Personalprälatur) angeschlossen haben. Das hieße, das Feld der Säkularität zu verlassen.
· Der heutige Mensch hat einen neuen Zugang zur Verantwortung und zur Freiheit bekommen. Deshalb lehnt er Kontrollen im Privatbereich grundsätzlich ab. Er möchte nicht durch Kontrolle zur Tugend herangeführt werden. Für Menschen, die, weil sie säkular sind, in der Welt leben, wo der Kontakt mit der Sünde oft unvermeidbar ist, hat es offenbar wenig Sinn, wenn die geistliche Leitung dieser Menschen vorwiegend, bzw. allzu stark auf der Vermeidung von möglichen Gefahren, selbst in an sich nicht gefährlichen säkularen Lebensumständen, ausgerichtet ist. Vielmehr sollte man den modernen Menschen klar machen, dass die Tugend die Folge der persönlichen Entscheidung für Christus ist, und weniger der Mangel an Gelegenheit. Leider gibt es überall Folgenerscheinungen der Sünde. Doch geistlich allzu behütete Menschen haben heutzutage schlechte Überlebenschancen.