16.10.06

Ist der Zölibat heute noch lebbar?

1. Einführung

"Ist der Zölibat heute noch lebbar? Kann er dem modernen Menschen überhaupt zugemutet werden?" Diese Fragen werden in kirchlichen Kreisen immer wieder gestellt, und es ist nur verständlich, dass Eltern und Erzieher sich Sorgen machen und die Jugendlichen mit Argwohn oder Skepsis reagieren...

Zunächst einmal lässt sich ganz einfach antworten: Der Zölibat wird gelebt, das ist sein stärkstes Argument. Entgegen allen Wogen von Sensualität und Egoismus, mit denen uns die Massenmedien zu überschwemmen drohen, entgegen allen suggestiven Warnungen Freudscher Prägung und allen statistischen Skandalveröffentlichungen über das Sexualverhalten innerhalb und außerhalb der Kirche gibt es tatsächlich auch heute noch Menschen, die in der christlichen Ehelosigkeit ihr Glück gefunden haben. Sie leben innerlich frei und unabhängig nach diesem Ideal des Evangeliums, in starker, tapferer und revoltierender Liebe, hundert- und tausendfach überall auf der Welt.

Tatsächlich ist der Zölibat auch heute noch lebbar. Je beharrlicher er tabuisiert, je stärker er verhöhnt oder auch entstellt wird, desto dringender ist es auch, ihm im christlichen Wertbewußtsein wieder den gebührenden Platz einzuräumen. Im folgenden möchte ich dies versuchen. Ich möchte mich bemühen, den tiefen Sinn der freiwilligen Ehelosigkeit, für Männer wie für Frauen, wenigstens ansatzweise zu erschliessen.

2. Wert der Ehe

Dabei kann es nicht darum gehen, den Zölibat gegen die Ehe auszuspielen. Für die meisten Menschen ist die Ehe eine angemessene und (trotz aller Schwierigkeiten) auch beglückende Lebensform. Hier erleben sie die Liebe, hier verwirklichen sie ihre Bereitschaft, für andere dazusein. Ihre persönliche Hingabe an einen Partner erreicht in der geschlechtlichen Vereinigung eine höchst innerliche und tiefe Form. Diese Vereinigung umfaßt, von ihrem Wesen her, sowohl die leibliche als auch die seelisch-geistige Dimension ihres Menschseins. Das Wesentliche der Ehe ist ein gegenseitiges und restloses Sich-Schenken, eine personale und integrierende Liebe, das Miteinander-Leben und Erleben, die gemeinsame Existenz, Aufgabe und Verantwortung. Mit dem ehelichen Versprechen haben sich Mann und Frau füreinander entschieden. Wenn sie es als Christen und vor Gott gegeben haben, dann haben sie sich mit dem Partner und gewissermaßen durch ihn hindurch zugleich auch mit Christus verbunden. Das Treueversprechen gilt auch Christus. Man schenkt sich nicht nur gegenseitig, man schenkt sich auch Christus in dem anderen. Die Ehegatten leben folglich nicht nur füreinander. Im Grunde leben sie gemeinsam für Christus. In ihrer Liebe wird Christus mitgeliebt. Wenn sie einander näher kommen, werden sie zugleich inniger mit Christus vereinigt. Denn ihre Gemeinschaft stellt als Sakrament eine der sieben geheimnisvollen Quellen der Teilnahme am göttlichen Leben dar.

So ist auch die Ehe ein Weg zu Gott. Deshalb konnte der Zölibat in der echten Überlieferung der Kirche niemals eine Herabsetzung der ehelichen Gemeinschaft bedeuten, auch kein Hinübergleiten in die Anschauungen des Manichäismus bezüglich des Körpers, des Geschlechtes und der Fortpflanzung. Der unsinnliche Mensch ist nie ein christliches Ideal gewesen! Wer nicht zu Gefühlen, zu Leidenschaft und Sehnsucht fähig ist, der leidet an einem Mangel, da ihm eine sehr tiefliegende Sphäre der menschlichen Natur verschlossen bleibt. Der Zölibat hat damit nichts zu tun. Er besagt schlicht, daß man freiwillig etwas "aufgibt", das nach dem Willen des Schöpfers zur Ehe führt, und zwar das Bedürfnis, sich einem anderen Menschen ganz zu schenken, das tiefer ist als die sexuelle Tendenz. Statt "Aufgeben" Könnten wir vielleicht besser von Opfer sprechen. Ein Mensch, der den Zölibat wählt, bringt Gott ein ganz konkretes, sehr persönliches Opfer dar, wenn er auf die Ehe verzichtet. Er verachtet diese Lebensform nicht, im Gegenteil: In allen Religionen aller Völker ist es stets üblich gewesen, das Kostbarste zu opfern, nicht das Schlechte und Mißratene; das wäre ja eine Beleidigung der Gottheit!

Wie der Mensch fähig ist, die Ehe zu wählen, so sind manche auch fähig, auf die Ehe zu verzichten. Auf diese Weise stellt die bewußt gelebte Ehelosigkeit nicht nur einen Zustand, sondern auch einen selbständigen Wert dar. Sie bildet eine "andere" Möglichkeit, einen "anderen" Weg, auf dem Mann und Frau Erfüllung finden können.

3. Liebe zu Christus

Nun sollte der Zölibat aber nicht nur negativ definiert werden. Sähen wir ihn lediglich als Verzicht und Entbehrung, dann hätten wir ähnliche Wahrnehmungen wie jemand, der an einem Garten nur den Zaun bemerkt und beim Tennisspielen nur an Muskelkater denkt. Dann hätten wir so gut wie nichts von der Schönheit und Größe der christlichen Ehelosigkeit erfaßt! Wer den Zölibat wählt, der entscheidet sich nicht für ein herz- und gemütloses Dasein; er fühlt sich auch nicht in die Wüste verbannt. Im Gegenteil, er wählt eine besondere Liebesgemeinschaft: ein Leben mit Christus und seiner Kirche. Er bezeugt, daß der Mensch seine volle Liebeskraft auf Gott richten kann. Selbstverständlich verzichtet er auf eine bestimmte Form der Verwirklichung seiner menschlichen Liebe, aber er verzichtet um einer größeren Liebe willen. Hängt der Wert einer Liebe oder Begeisterung doch vor allem davon ab, wen wir lieben und für wen wir uns begeistern! Und in diesem Fall ist Gott selbst das unmittelbare Ziel allen Strebens. Augustinus schreibt in einer Ermahnung an gottgeweihte Frauen: "Wenn ihr also eine große Liebe eurem Gatten schuldetet, wie sehr müßt ihr nicht den lieben, um dessentwillen ihr keinen Gatten wolltet?...Es ist euch nicht erlaubt, denjenigen wenig zu lieben, um dessentwillen ihr nicht liebtet, was erlaubt gewesen wäre."[1] Der Theologe Josef Arquer führt weiter aus: "Um zu sein, was sie sein soll, muß...(die christliche Ehelosigkeit) gelebte Zweisamkeit mit Gott sein, bewußte...Hinwendung zu Gott. Nach außen ein Verzicht, ist sie in ihrem Inneren immerwährendes Gebet."[2]

Bekanntlich gründet auch die Ehe im Geheimnis der Verbindung Christi mit seiner Kirche. Doch sie selbst ist nicht diese Verbindung; sie stellt diese nur zeichenhaft dar und macht Gottes Liebe anderen erfahrbar. Durch die Entscheidung zum Zölibat hingegen sind Frau und Mann gewissermaßen hineingenommen in das Geheimnis dieses Brautverhältnisses. Das durch die Ehe bereits angedeutete (und auch vermittelte) "mysterium caritatis" greift in ihr Leben direkt ein und läßt es auf einer höheren als der natürlichen Ebene Erfüllung finden. Mann und Frau leben nun auch in einer ganzheitlichen Liebeshingabe an ein Du, in einer direkten Ich-Du-Beziehung, aber nicht zueinander, sondern jeweils als einzelne Personen zum lebendigen und gegenwärtigen Christus, in letzter Unmittelbarkeit zu Gott allein. Johannes Paul II. hebt klar hervor: "Das alles läßt sich nicht mit dem einfachen Ledigsein oder Unverheiratetsein vergleichen; denn die...(christliche Ehelosigkeit) beschränkt sich nicht auf das bloße Nein, sondern enthält ein tiefes Ja im bräutlichen Sinne: die vollkommene und ungeteilte Hingabe aus Liebe."[3] Wer im Zölibat lebt, der hat entdeckt, daß er von Gott um seiner selbst willen geliebt wird, und er antwortet darauf mit seinem ganzen Leben, mit allen Energien der Seele und des Körpers: "Die menschliche Person, die von Gott so sehr geliebt wird, schenkt sich ihm, ihm allein."[4] Ihre Christusnachfolge ist radikal. Manche weisen darauf hin, daß der christliche Zölibat mit der bloß tatsächlichen, vielleicht sogar ungewollten und (in manchen Fällen) als schweres Los ertragenen Ehelosigkeit so wenig zu tun hat wie die freiwillige Armut mit der tatsächlichen, ungewollten und schmerzhaften Armut.
Heute ist es modern, diese Gedanken als idealistische Verstiegenheit zu bezeichnen. Doch davon sollten wir uns nicht lähmen lassen. Vielleicht könnte es helfen, uns an den großen missionarischen Aufbruch der ersten christlichen Jahrhunderte zu erinnern. Damals war es ganz selbstverständlich, daß viele Menschen den Zölibat erwählten. Er galt in der jungen Kirche als leuchtendes Glaubenszeugnis, vergleichbar etwa dem Martyrium. Man sah in ihm eine Manifestation der Liebe zu Christus, einen Ausdruck für die Vitalität des Gottesvolkes.

4. "Um des Himmelreiches willen"

Gewöhnlich wird der Zölibat als "Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen" bezeichnet. Das bedeutet etwa: Wer sich aus Liebe zu Christus zu ihm entscheidet, weist deutlich auf das "Himmelreich" hin. Er nimmt gleichsam in seiner physischen Existenz das vorweg, was allen Menschen bei der künftigen Auferstehung geschenkt werden wird. Auf diese Weise wird er "zum prophetischen Zeugen in der Zeit für jene zukünftige Welt, in der die Gerechtigkeit wohnt."[5]

Ein Christ lebt mit Blick nach vorn. Er lebt in eine unüberbietbare Zukunft hinein, die Himmel heißt. Der Himmel ist die Fülle des Guten, die das Menschenherz über die Grenzen all dessen hinaus ersehnt, woran es im irdischen Leben teilhaben kann; es ist die höchste Fülle der Belohnung des Menschen durch Gott. "Deshalb", so führt Ladislaus Boros aus, "gehören Geschmack am Glück, die Zuversicht, die Freude am Großen nicht auch zum Christentum; sie bestimmen die ganze christliche Wirklichkeit als Aussicht und Ausrichtung nach vorn..., als die Morgenröte eines erwarteten Tages."[6] Der Christ hat einfach keinen Grund, niedergeschlagen, traurig oder mutlos zu sein, sich mit dem gegenwärtigen Zustand zu begnügen und dabei das Hoffen zu vergessen.

Doch wer den Zölibat wählt, weist nicht nur auf eine zukünftige Welt hin. Er bezeugt vielmehr, daß die Zukunft bereits hier und heute begonnen hat. Hoffen im christlichen Sinn bedeutet nicht, daß man sich zu etwas hinwendet, das eintreffen könnte; es beinhaltet vielmehr, daß man das Ersehnte in gewisser Weise schon besitzt, wenn auch noch unvollkommen und sehr provisorisch. Nach einem bekannten theologischen Grundsatz ist die göttliche Gnade, aus der heraus der Hoffende lebt, "der Beginn der Herrlichkeit". Das heißt, für den christlich Hoffenden ist das ewige Leben schon jetzt auf geheimnisvolle Weise gegenwärtig. Gott hat uns ein Glück verheißen, das schon in dieser Welt beginnt! Seine Liebe darf von uns nicht nur erwünscht und erwartet, sie kann auch jetzt schon erfahren werden. Die sogenannten "letzten" Dinge sind in Wirklichkeit die ersten, zumindest werfen sie ihr Licht voraus. Es liegt an uns, sie immer mehr zur Entfaltung zu bringen, bis die Liebesgemeinschaft mit Christus vollständig entfaltet ist. Erst dann wird die urmenschliche Sehnsucht nach Glück restlos erfüllt.

Die Ehelosigkeit "um des Himmelreiches willen" vermag uns einen Vorgeschmack der ewigen Freude zu geben. Sie umgreift die tiefsten persönlichen und existentiellen Dimensionen des Menschseins und läßt uns etwas spüren von dem Leben in Fülle, das Christus uns schenken möchte. Zweifellos ist sie ein Weg, der wie die Ehe zur affektiven Reife und zur vollen Integration der Persönlichkeit führen kann. Doch es stellt sich die Frage, wer denn auf die eheliche Liebe zu verzichten vermag. Wer darf annehmen, er brauche die Hilfe eines Partners nicht? Sicher nur der, den Christus persönlich ruft und einlädt. Freiwillige Ehelosigkeit ist eine christliche Berufung. Sie kann nicht selbst verdient, "erarbeitet" werden. Nur Gott kann sie schenken, in freier, großzügiger, verschwenderischer Liebe. Aber jede christliche Frau und jeder christliche Mann sollten die Bereitschaft haben, dieses Geschenk anzunehmen. Und wenn ein Mensch tatsächlich einen besonderen Ruf Gottes vernimmt, sollte er die Kühnheit besitzen, seinen festumrissenen natürlichen Standort aufzugeben, um sich den Plänen der göttlichen Vorsehung ganz zu überlassen: "Im Stehenbleiben, wenn sein Ruf ertönt, inmitten aller dringendsten Verpflichtungen und Bindungen, im Fallenlassen von allem, was man gleichsam in der Hand hält, um den Blick für immer auf ihn zu richten..., liegt ein spezifischer Niederschlag der grenzenlosen, anbetenden Liebe."[7]

Wenn ein Mensch von der Liebe Gottes getroffen wird, wenn er die Gnade zur christlichen Ehelosigkeit aufnimmt und in sich wirken läßt, dann wird er immer deutlicher erfahren, daß der Zölibat mehr Geschenk als Verzicht, mehr Reichtum als Bedürfigkeit ist. Er wird begreifen, daß er sich bei Gott vollständig verstanden und geborgen fühlen kann, daß er Gott alles sagen kann, was ihn bewegt - ja, daß ein Leben mit Christus das größte Glück ist, das man sich wünschen kann. "Die Frage gelungener Ehelosigkeit ist für mich eine Frage nach meiner wahren Heimat," sagt der Benediktinerpater Anselm Grün. "Wo fühle ich mich daheim? Dort, wo ich mich gut eingerichtet habe? Dort, wo liebe Menschen sind, mit denen ich mich unterhalten kann? Oder fühle ich mich wirklich bei Gott daheim? Ehelosigkeit wird gelingen, wenn ich mich bei Gott daheim fühle."

5. Schwierigkeiten

Wie jede radikale und endgültige Entscheidung, die den ganzen Menschen engagiert, ist natürlich auch der Zölibat "ein schweres und schwieriges Band der Liebe".[8] Die Anforderungen, die er an die Neigungen der menschlichen Natur stellt, dürfen weder in unwissender Naivität verharmlost noch in geistiger Kleinlichkeit verborgen werden. Ganz im Gegenteil ist es für ein "geglücktes" Leben in der Hingabe an Gott unbedingt erforderlich, sie tief menschlich und realistisch zu erfassen.

Wenn man aus Liebe zu Gott auf die einzigartige Liebesgemeinschaft der Ehe verzichtet, dann trennt man sich unbestreitbar von einer tiefen Quelle des Glücks und auch von einer großen natürlichen Hilfe auf dem Weg zur Gottvereinigung: Echte Liebe zu einem Menschen ist (auf der natürlichen Ebene) wohl das wirksamste Mittel, um Hochmut, Egoismus und ungeordnete Leidenschaften zu überwinden. Sie macht das Herz weich und verständnisvoll, hilft großzügig und lernbereit zu sein. Wenn man auf diese menschliche Liebe verzichtet, kann man sich auf sich selbst zurückgeworfen fühlen, und es entsteht notgedrungen eine Leere im Herzen. Mit dieser Leere muß man sich ernsthaft konfrontieren. Sie kann letztlich nur dann ausgefüllt werden, wenn man den Zölibat als "Chance für ein besonders verliebtes Leben"[9] begreift. Wenn Christus das Herz erfüllt, ist die Einsamkeit radikal besiegt! Sollte das aber nicht der Fall sein, dann kann der Mensch sehr leicht spröde und kauzig werden, an Herz und Gemüt verkümmern. Es könnte auch geschehen, daß er in Kleinlichkeit versinkt und die Leere durch niedrige Ambitionen auszufüllen sucht - etwa durch den Eifer, über andere zu herrschen oder auch durch ein Streben nach Erfolg, Geld und Applaus. Das gibt oft Anlaß zur Kritik seitens Außenstehender. Man muß zugeben, daß der Zölibat tatsächlich unverständlich wird, sobald Christus darin nicht mehr das Eigentliche, die Norm und die Wirklichkeit ist.

Aber auch dann, wenn der Verzicht auf die Ehe in einem Akt freudiger Selbstentsagung geleistet worden ist, so heißt das nicht, daß seine Folgen im Laufe des Lebens nicht doch belastend sein könnten. Die Routine kann das Herz abstumpfen oder erstarren lassen, die alltägliche Arbeit kann ermüden. Es besteht die Gefahr, in das zurückzufallen, was man aus Liebe zu Gott verlassen hat - oder eben innerlich zu verknöchern und zu verbittern. Gerade in der Lebensmitte - die man treffend auch die Entscheidungssituation der "zweiten Bekehrung" genannt hat - kann der Mensch von Trägheit und Überdruß erfaßt werden. So mancher ist vom Leben ernüchtert, vielleicht auch gelangweilt; er spürt seine Schwachheit und will oder kann sich das Große nicht mehr zumuten. Die Enttäuschung macht sich breit; sie findet bisweilen ihren Ausdruck in Kritiksucht, in kleinlichem Nörgeln und Groll, in Neugier, Gerede, Hektik und Aktivismus oder auch in stumpfer Gleichgültigkeit. So kann es geschehen, daß der Zölibat die psychische Reifung verlangsamt, ja manchmal sogar blockiert. Er wird sie aber bei einem normalen Menschen, der immer wieder neu versucht, aus seinem Glauben zu leben, letztlich nicht verhindern können.

Gewiß gibt es tragische Situationen! Wir müssen uns aber klarmachen, daß der Zölibat an sich für eine mögliche Verhärtung des Herzens genauso wenig verantwortlich ist, wie die Ehe eine Garantie gegen solche Verhärtung wäre. Gibt es nicht viele verheiratete Personen - Frauen wie Männer -, die vom Egoismus beherrscht sind, deren Herz erkaltet ist, die allgemein einen recht freudlosen, verdrießlichen und bornierten Eindruck machen? Auch die menschliche Liebe und das sexuelle Leben können frustrierend sein, und nicht nur deshalb, weil sie doch immer auch Grenzen und Relativität einer Bindung erfahren lassen, die sich nach dem Unendlichen sehnt, nach Ewigkeit und nach dem Absoluten, was in diesem Leben letztlich gar nicht zu erreichen ist. Früher oder später spürt jeder Mensch mit einem gewissen Tiefgang, daß sein Wunsch nach Vereinigung in dieser Welt nie völlig gestillt werden kann. Das heißt aber nicht, daß er in der Ehe nicht glücklich - und immer glücklicher - werden könnte.

6. Notwendigkeit echten Bemühens

Es ist wohl eine Binsenwahrheit: Überall da, wo es sich um hohe Güter handelt, müssen wir uns bemühen nicht abzustumpfen, nicht immer wieder in die Trägheit zurückzusinken und das Gefühlsleben zu ordnen. Dieses Bemühen ist in jeder Ehe notwendig, und es spielt für jemanden, der sich für den Zölibat entschieden hat, natürlich ebenfalls eine eminente Rolle.

Wir sind nun einmal ebenso sehr Leib wie Seele, und alle unsere geistlichen Tätigkeiten sind zuinnerst an unser Empfindungsleben gebunden. Außerdem ist unsere Natur durch die Schuld geschwächt. Es wäre vergeblich, sich gegen diese Wirklichkeiten zu sträuben und die menschlichen Regungen einfach zu verleugnen. Man würde dann in einem unmenschlichen Stoizismus erstarren. Ebenso falsch wäre es aber auch, allen Regungen einfach nachzugeben und dabei die eigene Lebenssituation zu verdrängen. Wir sind aufgefordert, unsere Gefühle in den jeweiligen Situationen zu erkennen, klar zu benennen und auf unser Lebensziel hin zu ordnen.

Wir dürfen uns nicht vor dem scheuen, was in der christlichen Tradition gewöhnlich als Askese verstanden worden ist. Das Wortklingt vielen heute fremd und unangenehm. Vielleicht ist die Wirklichkeit, auf die es hindeutet, in früheren Zeiten tatsächlich sehr übertrieben worden. Vielleicht ist aber auch die Tatsache, daß die Notwendigkeit der Askese heute in weiten Kreisen abgelehnt wird, nicht selten für ein Scheitern des zölibatären Lebens mit verantwortlich zu machen. Es kann nicht darum gehen, auf jede Art von Askese zu verzichten; diese muß nur sinnvoll begründet und eingesetzt werden. Die bekannte Ordensfrau Isa Vermehren hebt klärend hevor, daß die sog. Selbstzucht "in Liebe und aus Liebe zum Herrn" geschehen muß, "in angstfreier, vertrauensvoller Liebe auch, dann führt sie in große Herzensfreiheit und -weite."[10] Die Askese steht im Dienst der Gottesbegegnung. Nicht die eigene Perfektion, sondern die größere Gottesliebe ist ihr Ziel. Es kommt in erster Linie nicht darauf an, bloß nichts falsch zu machen und niemals hinzufallen. Wir sind aber eingeladen, immer wieder aufzustehen. Gott ist es wohl angenehmer, wenn wir ihm unser zerbrochenes Herz hinhalten, als wenn wir unsere asketischen Leistungen und unser “moralisches Unbeflecktseins” vorzuweisen trachten.

Auf jedem Lebensweg kann es Zweifel über einmal getroffene Entscheidungen, Dunkelheit und Enttäuschung geben. Innere Stabilität und geistige Reife gewinnt man normalerweise erst mit der Zeit, in einer nicht linearen Entwicklung, durch mehr oder weniger große Krisen hindurch. Doch eine Krise ist keine Katastrophe. Wir sollten im Gegenteil die Chance entdecken, die in ihr verborgen ist. Durch Belastungen wird die Liebe reifer und tiefer; in jedem Sturm kann sie erneuert werden. Der Wunsch, sich einem anderen ganz zu schenken, kann im Verlauf der persönlichen Lebensgeschichte immer mehr gereinigt und vermehrt werden. Dazu ist allerdings erforderlich, daß man gut versteht, was man in diesem "Sturm" erlebt, daß man nicht flieht, sich nicht ablenken läßt und sich vor allem nicht mit möglichen "Partnerwechseln" selbst betrügt: Denn das, was man ändern sollte, ist oft doch nur das eigene Ich.
In einer Krise wird man praktisch aufgefordert, an den Anfang der Liebesbindung zurückzukehren und diesen noch einmal zu wiederholen. Man wird aufgefordert, aus ganzem Herzen noch einmal das Ja zu sprechen. Der Philosoph Dietrich von Hildebrand sagt erläuternd dazu: "Nun darf aber dieses Zum-Ursprung-Zurückkehren, zu dem Moment, in dem Gott unsere Seele in der Tiefe berührte, das zum Wesen aller Erneuerung gehört, nicht mit einem Zurückkehren in allen Einzelheiten zu dem Ursprung verwechselt werden. Es ist ein Zurückkehren zu der ursprünglichen Wachheit, Glut, dem ursprünglichen Eifer - aber nicht notwendig zu der ursprünglichen Struktur."[11] Das heißt, das Wissen und die Erfahrung, die ich auf meinem Lebensweg gesammelt habe, müssen nicht geleugnet werden. Wenn ich das anfängliche Ja wiederhole, so geschieht es bewußter und auch freier als beim ersten Mal, mit der Begeisterung der Jugend und der Reife der Jahre. Mit der Zeit liebe ich immer mehr, weil ich lieben will und bereit bin, auch Opfer zu bringen.
Die Reifungsmöglichkeiten eines Menschen - ob Mann oder Frau, ehelos oder verheiratet - sind so groß wie die Liebe, von der er lebt. Sorgt man sich nur um sich selbst und seine Geltung, wird man innerlich arm, eng und öde, abstoßend für die Mitwelt. Das entscheidende Hindernis für eine harmonische Persönlichkeit und ein geglücktes Gemeinschaftsleben ist die Egozentrik, eine verklemmte, vielleicht sogar neurotische Beziehung des Ich zur Welt und zu den anderen. Wenn jemand den Zölibat erwählt hat, muß er auf einer immer tieferen Ebene lernen, sich loszulassen. Er muß ganz und immer wieder neu auf den blicken, für den er sich entschieden hat. Mit anderen Worten, er muß bereit sein, sich von allen weniger hohen Gütern mehr und mehr zu trennen - so etwa von dem Bedürfnis nach einem ruhigen und geordneten Leben. Er muß sich natürlich erst recht von allen Fehlern und Unvollkommenheiten zu lösen versuchen, zum Beispiel von kleinlichem Konkurrenzkampf, von Neid und Schadenfreude, übertriebener Empfindlichkeit und Karrieredenken, damit sein Herz immer reiner und freier für die Liebe Gottes werden kann.

Nicht immer ist es notwendig, daß Wille und Gefühlsleben harmonisch miteinander vereint sind. Dieser Zustand ist zwar erstrebenswert und wird im Himmel endgültig verwirklicht sein. Man kann wohl auch ohne Übertreibung sagen, daß er bei vielen, die sich ernsthaft für die Liebe zu Gott entschieden haben, auch hier und heute schon vorhanden ist: Sie lieben Gott nicht nur aufgrund eines edlen Entschlusses; sie lieben ihn mit den Kräften ihres Herzens. Sie sind glücklich, ihn lieben zu dürfen! Doch gerade diese Liebe kann auch manchmal dazu führen, gegen gewisse tiefe Regungen des eigenen Herzens anzugehen. Dies war etwa bei Abraham der Fall, als er sich bereit erklärte, seinen Sohn zu opfern. Hildebrand stellt jene Situation sehr einfühlsam dar: "Abraham mußte mit seinem Willen Ja sagen, als er das Gebot Gottes vernahm...Aber sein Herz mußte bluten und mit dem größten Schmerz antworten. Sein Gehorsam wäre nicht vollkommen gewesen, wenn sein Herz freudig zugestimmt hätte. Im Gegenteil, dies wäre ein ungeheuerliches Verhalten gewesen. Nach Gottes Willen erforderte das Opfer...den tiefsten Schmerz als Antwort des Herzens."[12] Ähnliches erfuhr auch Christus im Ölgarten, wobei allerdings der unendliche Abstand zwischen Abraham und dem Sohn Gottes zu berücksichtigen ist.

Was heißt das für uns? Ob in der Ehe oder im Zölibat - auch wir müssen manchmal Opfer bringen um einer größeren Liebe willen. Wir müssen Opfer bringen, um dem treu zu sein, an den wir uns freiwillig gebunden haben. Ich denke, daß ein Vertiefen in die Passion Christi uns oft helfen kann, wenn es im affektiven Bereich zu Versuchungen und Schwierigkeiten kommt. Wenn alle Fügungen Gottes uns nur erfreuen würden, wenn wir nie an einem Widerspruch zwischen den Regungen unseres Herzens und dem Entschluß unseres Willens zu leiden hätten, dann müßten wir uns vielleicht fragen, wie lebendig unser Glaubensleben ist. Vielleicht folgen wir Christus so sehr aus der Ferne, daß wir sein Kreuz gar nicht spüren können!

Sollten wir andererseits in der Nachfolge Christi Schmerz erfahren und uns darüber wundern und beklagen, dann könnte auch dies ein Zeichen dafür sein, daß wir dem Herrn noch nicht nahe genug sind. "Ein gewisser Tonfall der Klage...steht...im Widerspruch zum Wesen der Liebe," hebt Arquer hervor. "Der Liebende nimmt Opfer gern auf sich und rechnet dem Geliebten nicht ständig vor, was er ihm alles schenkt! In einer zentralen Schicht seines Wesens spricht der Ehelose ein glückliches Ja zu diesem Leid, begrüßt es als Kreuz, das ihn ja mit Christus verbindet."[13]

Natürlich handelt es sich beim Zölibat um eine Hingabe, die die Torheit des Kreuzes an sich trägt. Dabei ist aber hervorzuheben, daß man nicht das Kreuz an sich liebt, sondern den Gekreuzigten. Man möchte Christus nahe sein; man will es nicht besser haben als er! "Die Liebe drängt nach einem Ausdruck, nach einer Objektivierung der Hingabe...Sie freut sich am Opfer für den Geliebten; sie sehnt sich, ihm zu zeigen, daß sie ihn vor allem und über alles liebt. Die irdische Braut verläßt das Haus der Eltern und löst die Lebensgemeinschaft mit denen, die sie in Liebe bisher umgaben und zu denen sie gehörte, um dem Mann nachzufolgen, den sie in Liebe erwählte."[14] Wieviel mehr Grund hat derjenige, der sich für Christus entscheidet, radikal ernst zu machen mit der Hingabe!

7. Hilfe der göttlichen und menschlichen Liebe

Im Zölibat - wie in der Ehe - kann es selbstverständlich Schwierigkeiten und Konflikte geben. Unbestreitbar ist eine gewisse Bereitschaft zur Selbstüberwindung notwendig, wenn man ein ganzes Leben lang treu sein will. Ich habe ausführlich darüber gesprochen, weil es heute kaum erwähnt wird. Doch ich denke nicht, daß die Askese das Wichtigste seien. "Wenn du ein Herz hast, kannst du gerettet werden," sagt ein geistlicher Autor. "Darauf kommt es in unserem geistlichen Leben an, daß wir ein Herz haben, das lieben kann, das sich verwunden läßt, das voller Sehnsucht und Güte, voller Zärtlichkeit und Hingabe ist.” (Anselm Grün) Um auf diese Weise das Herz zu formen, reichen unsere eigenen Kräfte bei weitem nicht aus. Eine weitaus entschiedenere Hilfe dürfen wir von Gott selbst und auch von den anderen Menschen erwarten. Darauf möchte ich nun kurz eingehen.

Heute pflegt man lang und genüßlich all die psychologischen Faktoren hervorzuheben, welche das Durchhalten des Zölibates fast unmöglich erscheinen lassen. Doch man übersieht dabei eine bedeutende Tatsache. Man berücksichtigt nicht die besondere Kraft, die Gnade, die Gott denen schenkt, die sich ihm anvertrauen - und so verfälscht man die objektive Sachlage. Vor allem ist es die unendliche Liebe Christi selbst, welche die Stumpfheit unseres Herzens vertreibt und Gemütsschwankungen zur Ruhe bringt. Die Gnade vermag die tiefsten Schichten unseres Herzens aufzubrechen, zu heilen, zu erwärmen, gleichsam "aufzuschmelzen". Sie versetzt uns Menschen mitten in den Aktionsradius Gottes, in seine Liebe hinein. "Er, der die Seele ruft, wird sie füllen mit sich selbst, wenn sie seinem Ruf folgt."[15] Von uns Menschen wird lediglich ein Minimum an Bereitschaft verlangt, sich dieser Liebe immer wieder neu zu öffnen. "Wenn ihr heute seine Stimme hört, verhärtet nicht euer Herz!" (Ps 94,7-8)

Auf einer anderen Ebene allerdings sehnt sich das menschliche Herz auch danach, menschliche Liebe zu geben und zu empfangen. Vielleicht ist die Tatsache, daß man dies in gewissen geistlichen Strömungen immer wieder zu leugnen versucht hat, ein Grund dafür, daß so mancher Eheloser unnatürlich und verkrampft wirkt und seine religiösen Verpflichtungen schließlich als Last empfindet. Ein gesundes geistliches Leben wird normalerweise wohl nur möglich sein, wenn man in guten menschlichen Beziehungen lebt. Wir sollten keine Scheu vor menschlicher Liebe haben. Wenn das affektive Leben in Christus gegründet und von seiner Kraft durchdrungen ist (und wenn wir bereit sind, uns zu bemühen), dann kann die menschliche Liebe auch für den Ehelosen eine große Hilfe zur tieferen Gottvereinigung sein. Sie ist schließlich nicht auf die eheliche Liebe begrenzt! Die Liebe hat viele Gestalten. Für denjenigen, der zur christlichen Ehelosigkeit berufen ist, gewinnt die Freundschaft eine ganz besondere Bedeutung. Das heißt, neben der Liebe zu Gott kann vor allem die freundschaftliche Liebe zu Gleichgesinnten ganz entscheidend dazu beitragen, daß man mit Freude auf dem einmal eingeschlagenen Weg bleibt und zügig vorangeht.

Den Wert der Freundschaft haben in der christlichen Tradition viele besungen. Augustinus sagt sogar: "Ohne einen Freund kommt nichts in der Welt uns freundlich vor." Dieser große Kirchenvater fühlte sich durch seine Freunde immer wieder bestätigt, ermuntert und angetrieben zu großen Werken. Er hat gerade nach seiner Konversion von solchen Freundschaften gelebt. Wenn jemand Menschen an der Seite hat, die er liebt und denen er vertraut, dann kommt ihm alles leichter vor. Wenn diese Menschen sogar durch Dick und Dünn denselben Weg zu gehen sich bemühen (oder ihn zumindest gut verstehen), dann kann es sogar geschehen, daß die Schwierigkeiten eher animierend als blockierend wirken.

Die Freundschaft ist ein hohes Gut, das gerade zu einem echten christlichen Leben dazugehört. Christus sagt an einer zentralen Stelle des Evangeliums zu seinen Jüngern: "Freunde habe ich euch genannt." (Joh 15,15) Wir dürfen und sollen Freundschaft schließen, mit Gott und mit den Menschen. Dabei ist wohl jedem klar, daß es im Hinblick auf die Freundschaften zwischen Frauen und Männern notwendig ist, sehr aufrichtig zu sein, vor Gott und vor sich selbst.

Doch die Nähe zu Christus bedeutet keineswegs die Ächtung der menschlichen Liebe, die das Herz verstummen ließe. Im Gegenteil, sagt Dietrich von Hildebrand, die Nähe zu Christus bewirkt, "daß das Herz unvergleichlich sensibler, glühender wird und nun von einer vorher unerhörten Affektivität beseelt ist. Gleichzeitig wird es von allen illegitimen Gefühlen...gereinigt."[16] Wer Gott liebt, wirklich liebt, der braucht keine Angst zu haben, daß er sich zu sehr an die Geschöpfe klammert. C.S. Lewis, der bekannte anglikanische Philosoph, hebt ausdrücklich hervor, daß nicht nur die Gefahr besteht, den Menschen abgöttisch zu lieben; ebenso groß ist die Gefahr, ihn zu wenig zu lieben. Er denkt hier an diejenigen, die aus religiösen (oder pseudo-religiösen) Motiven sparsam mit ihren Gefühlen sind, um jede Art von Verstrickungen zu vermeiden. "Ich bin überzeugt," sagt er, "daß die...maßloseste Liebe dem Willen Gottes weniger entgegensteht als die gewollte, selbstschützerische

Lieblosigkeit...Wahrscheinlich ist es unmöglich, einen Menschen zu sehr zu lieben. Wir lieben ihn vielleicht zu sehr im Verhältnis zu unserer Liebe zu Gott; aber nicht die Größe unserer Liebe zu dem Menschen ist falsch, sondern die Kleinheit unserer Liebe zu Gott."[17] Christliche Ehelosigkeit darf nicht in die Isolation führen. Wenn wir sie mit der Gnade Gottes richtig begreifen, wird sie uns dahin führen, Gott und die Menschen leidenschaftlich zu lieben - und uns von ihnen lieben zu lassen.

8. Schluß

Zusammenfassend möchte ich noch einmal hervorheben: Der Zölibat ist ein Weg zu dem Leben in Fülle, das Christus uns verheißt. Er verlangt - wie die Ehe - viel Vitalität, wenn er gelingen soll. Denn er erfordert, daß die ursprüngliche Motivierung der Hingabe ein ganzes Leben hindurch lebendig erhalten wird. Dies ist letztlich nur in einem echten Gebetsleben möglich: Nur im Gespräch mit Gott selbst kann der Sinn der Ehelosigkeit immer tiefer erfaßt, nur im Umgang mit Christus kann die Leere des Herzens gefüllt, nur im bewußten Erleben des Kreuzes kann die verwundete Natur geheilt werden.

In dem Maß aber, in dem ein Mensch sich in der Anbetung Gottes verschenkt, wendet er sich den anderen zu; er wird liebesfähiger. Die Ehelosigkeit "um des Himmelreiches willen" vermag - gerade weil sie in einer törichten Selbstverleugnung gründet, weil sie eine großzügige Hingabe ist - sogar überdurchschnittlich reife und freundschaftsfähige Persönlichkeiten hervorzubringen. Der Grad ihrer Wärme und Hingabe hängt davon ab, wie tief und lebendig ihre Gottesliebe ist. Die große innere Nähe zu Christus, die vollkommene Vertrautheit mit ihm, kann den Menschen sogar zu einem Meister der Liebe machen.

Noch ein Wort zum Schluß: Die höchste, innigste Verbindung mit Christus ist als solche natürlich an keine Lebensform geknüpft. Sie ist Merkmal der Heiligen, möglich für alle - für den Verheirateten ebenso wie für den Ehelosen. Wichtig ist, daß jeder seinen Weg entdeckt und treu befolgt, im festen Glauben, daß Gott ihn von Ewigkeit her ganz persönlich auf diesen Weg gerufen hat.

Jutta Burggraf

[1] Aurelius Augustinus, zitiert bei Josef Arquer: "Zölibatär leben bringt doch überhaupt nichts!" Die charismatische Ehelosigkeit und ihre Bedeutung für die Gesamtkirche, in: Kirche und Sex, hrsg. von Michael Müller, Aachen 1994, S.262.

[2] Ebd., S.263.

[3] Johannes Paul II.: Mulieris dignitatem, Nr.20.

[4] Karol Wojtyla: Liebe und Verantwortung, München 1979, S.218.

[5] Alvaro del Portillo: Der Zölibat des Priesters, Köln 1973, S.28.

[6] Ladislaus Boros: Im Menschen Gott begegnen, Mainz 1967, S.103 f.

[7] Dietrich von Hildebrand: Reinheit und Jungfräulichkeit, 4. Aufl., St. Ottilien 1981, S.180.

[8] Alvaro del Portillo: Der Zölibat des Priesters, a.a.O., S.40.

[9] Josef Arquer: "Zölibatär leben bringt doch überhaupt nichts!" a.a.O., S.251.

[10] Isa Vermehren: Vom Reichtum der Ehelosen, in: Der Zölibat des Priesters, hrsg. von Klaus M. Becker und Jürgen Eberle, St. Ottilien 1995, S.95.

[11] Dietrich von Hildebrand: Zölibat und Glaubenskrise, Regensburg 1970, S.40.

[12] Dietrich von Hildebrand: Über das Herz, Regensburg 1967, S.189.

[13] Josef Arquer: "Zölibatär leben bringt doch überhaupt nichts!" a.a.O., S.265.

[14] Dietrich von Hildebrand: Reinheit und Jungfräulichkeit, a.a.O., S.189.

[15] Dietrich von Hildebrand: Reinheit und Jungfräulichkeit, a.a.O., S.174.

[16] Dietrich von Hildebrand: Über das Herz, a.a.O., S.192.

[17] Clive Staples Lewis: Was man Liebe nennt, 3. Aufl. Basel-Gießen 1982, S.122.

4.10.06

Eheliche Liebe - Eine Herausforderung

1. Einführung

Kann die Ehe tatsächlich als eine Gemeinschaft der Liebe bezeichnet werden? Leben die Ehepaare zusammen, weil sie sich lieben? Ich muß gestehen, daß diese Fragen mich sehr nachdenklich machen. Kürzlich erzählten einige verheiratete Frauen und Männer, warum sie sich auch nach zehn, zwanzig oder vierzig Jahren nicht von ihrem Partner trennen möchten: "Ich fühle mich wohl in meiner Ehe," sagte beispielsweise ein Sportlehrer. "Denn ich kann machen, was ich will. Meine Frau ärgert sich nicht, wenn ich abends spät nach Hause komme. Sie fragt auch nicht, wo ich war. Natürlich lasse ich ihr dieselben Freiheiten. Sie versorgt das Haus und kümmert sich um die Kinder. Was könnte man mehr erwarten?" Die Frau eines Industriellen meinte: "Ich habe viel Glück gehabt mit meiner Ehe. Mein Mann verdient sehr gut. Endlich kann ich den Lebensstil wählen, der mir zusagt. Ich habe Zeit und Geld, all meine kulturellen Interessen zu pflegen." Und eine vielbeschäftigte Managerin berichtete: "Wir sind gut aufeinander eingespielt: Mein Mann kocht an fünf Tagen der Woche, ich am Wochenende. Dafür mache ich aber auch das Frühstück und die Betten." ... Sicher hat jeder von uns ähnliche Gespräche oft gehört. Und den meisten ist wohl auch klar, daß es sich hier lediglich um gut geölte Beziehungen zwischen zwei Menschen handelt, die sich um nichts weiter als Korrektheit bemühen - und die sich wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang fremd bleiben!

Kann das wirklich alles sein? Genügen einige Kompromisse, ein paar Regeln der Höflichkeit - und das Eheleben klappt? Ist es überhaupt wünschenswert, die "große Liebe", von der die Welt träumt, in ein gemäßigtes und wohltemperiertes Harmonieren abzuschwächen? Christliche Vorstellungen von der Ehe gehen weit über solches Denken hinaus. Das Christentum spricht von der großen, es spricht von der äußersten Liebe zu einem Menschen. Vorbild der ehelichen Liebe, so haben wir alle wohl schon einmal gehört, ist die Liebe, die Christus uns offenbart hat. Diese Liebe ist so tief und unergründlich, daß Christus selbst den Tod am Kreuz nicht scheute, um sich die Kirche als Braut zu erwerben.

Diese Gedanken sind uns wohl auch im Zeitalter der Säkularisierung nicht völlig fremd; aber sie sind uns reichlich fern. Sie sind uns so fern, daß mancher sich wundern wird, warum ich sie überhaupt erwähne. Die Antwort ist ganz einfach: Ich bin überzeugt davon, daß es sich lohnt, sie zu betrachten. Deshalb habe ich mir vorgenommen, mich etwas mehr mit ihnen zu beschäftigen.

Offensichtlich herrschen in unserer Gesellschaft ganz andere Vorstellungen von dem, was man Liebe nennt. Man will genießen, besitzen und verwöhnt werden. Liebe und Ehe scheinen ohnehin recht unversöhnlich zu sein. In zahlreichen Filmen, Romanen und Erzählungen bis hin zu Glossen und Witzen der Trivialliteratur wird die Ehe als Falle, als Gefängnis, womöglich sogar als Irrenhaus oder als Hölle dargestellt. Und wir wissen zur Genüge, daß sie von nicht wenigen Zeitgenossen tatsächlich so empfunden wird. Darum kann man in gewissen Kreisen mit stürmischem Beifall rechnen, wenn man verächtlich von der Ehe spricht. Pessimismus ist ansteckend, Zynismus noch mehr! Doch noch schädlicher als übertrieben hohe Erwartungen, denke ich, können solche Erwartungen sein, die unangemessen niedrig angesetzt sind.

Natürlich dürfen wir die Augen vor den Schwierigkeiten nicht einfach verschließen. Doch der Blick sollte auch nicht starr auf die Probleme fixiert sein. Denn das führt nur dazu, die Ehe von vornherein abzulehnen. Außerdem sollten wir uns nicht zu schnell täuschen lassen: Es gibt durchaus auch heute Menschen, die in ihrer Ehe glücklich sind. Ihre Zahl ist gar nicht so gering, wie es manchmal scheinen könnte. Es sind die, die den Wunsch haben, aus ihrer Lebensgemeinschaft etwas Schönes, etwas Großes zu machen - und die den Einsatz dafür nicht scheuen. Ich meine den echten Einsatz, nicht nur das Erlernen einiger oberflächlicher Spielregeln. Echter Einsatz bedeutet, sich selbst und seine Haltungen immer wieder zu überprüfen. In erster Linie, denke ich, geht es nicht darum, was man tun, sondern wie man sein muß, um eine glückliche Ehe zu führen. Denn in der Ehe bilden Mann und Frau eine neue Seinseinheit. Daraus erwächst die große Forderung, das eigene Sein reinzuhalten, den Egoismus, die Herrschsucht, die Trägheit des Herzens zu bekämpfen, damit das Böse nicht zum anderen übergehe, ihn nicht anstecke oder vergifte. Wenn man bereit ist, sich selbst zu bessern, dann kann man gewöhnlich auch eine bessere Ehe führen.

2. Verliebtheit

Am Anfang sieht alles ganz einfach aus. Man ist verliebt in den Mann, in die Frau. Man sehnt sich danach zusammenzusein, und man tut alles, damit der andere glücklich ist. Hindernisse und Mühen zählen nicht; man spürt sie kaum. Die Fesseln der Trägheit, das dumpfe Dahinleben scheinen überwunden zu sein. "In der echten Verliebtheit wird der Mensch zart und sogar rein," sagt der Philosoph Dietrich von Hildebrand. Er meint hier nicht den Gefühlsrausch, das sinnliche Gefangensein, sondern echte Begeisterung für einen anderen Menschen - ein Hingerissensein, an dem Verstand und Herz, Wille und Gefühl beteiligt sind. Mag diese Begeisterung zunächst auch in äußeren Zügen des anderen gründen, so erfaßt sie doch die Güte und Schönheit des anderen Wesens. Ebenso wie die eheliche Liebe, so ist auch ein echtes Verliebtsein auf strenge Ausschließlichkeit und auf Dauer gerichtet. Wer sagt: "Jetzt bin ich verliebt; aber ob das morgen noch der Fall ist, weiß ich nicht", - der ist berauscht, aber nicht wirklich verliebt.

Es ist wünschenswert, wenn die intensiven Gefühle der Verliebtheit am Anfang der ehelichen Beziehungen stehen; sie machen den Start leichter. Ein Flugzeug, das von München nach Hamburg aufbricht, verbraucht achtzig Prozent seines Benzins in der Startphase. Diese ungeheure Energie muß investiert werden, um die Maschine auf Flughöhe zu bringen. Ist diese einmal erreicht, so wird eine andere Form der Energiezufuhr erforderlich. Sie muß nun gleichmäßig und ausdauernd sein, und ab und zu muß man kleinere (oder größere) Korrekturen vornehmen, um auf dem Kurs zu bleiben.

Echte Verliebtheit ist wohl die beste Voraussetzung für eine Heirat. Doch absolut notwendig ist sie nicht. Alle Dichter und Denker und viele Menschen mit Lebenserfahrung sind sich darüber einig, daß eine große Verliebtheit, die in die Ehe mündet, nicht unbedingt das Gewöhnliche ist. Wer sie erfährt, fühlt sich glücklich und beschenkt. Doch auch wer sie anfangs nicht erfährt, kann eine gute Ehe führen. Da die Verliebtheit in erster Linie nicht Sache unseres Willens ist, wäre es unsinnig, sie schon für den Eingang der Ehe zu fordern oder die Dauer des Bundes von ihr abhängen zu lassen.

Auch die Ehe aus Sympathie, aus Freundschaft und Wohlwollen hat ein gutes Fundament. Sie ist zwar unromantischer, nüchterner, aber sie ist überaus entwicklungsfähig. Sympathie kann sich zur Liebe erwärmen; aus Gewohnheit können Zärtlichkeit und Vertrauen reifen.

Zahlreiche Ehen werden aus Vernunft und Pflicht geschlossen. Witwer müssen ihren Kleinkindern eine Mutter bringen, Frauen den heranwachsenden Söhnen einen Vater; man heiratet aus Dankbarkeit oder auch, um versorgt zu sein. Es gibt die Geld- und Namensheirat, die sogenannte "gute Partie"; es gibt auch die Heirat, weil ein Kind unterwegs ist, und die einfache Angst, allein zu bleiben ... Natürlich sind das keine Idealmotive. Doch wenn man zumindest Gefallen am anderen hat, wenn man sich zumindest bei ihm "wohl fühlt" und fest entschlossen ist, eine Lebensgemeinschaft einzugehen, sind diese Ehen oft einer Vertiefung und Entwicklung fähig (am wenigsten wohl die Geldehe). Es sind Ehen auf Hoffnung hin: Hoffnung auf "wirkliche" Liebe, die nicht nur die Ratio, sondern auch das Herz ergreift.

Auf irgendeine Weise gehört die Verliebtheit wohl immer zur ehelichen Liebe dazu - und sei es nur als latente Möglichkeit. Ich halte es nicht für richtig, sie abzuwerten; ihr Mangel könnte einer der häufigsten Gründe für spießige Verhältnisse sein. Das heißt nicht, daß die Verliebtheit immer in gleicher Lebendigkeit bestehen müßte. Doch die eheliche Liebe sollte von ihr gefärbt sein, denn sie stellt - in immer tieferer Weise verwirklicht - deren vollste Realisierung dar.

Dabei sind Ehe und Liebe natürlich nicht einfach gleichzusetzen. Die Ehe ist ein objektiver Bund, der unabhängig von den aktuellen Empfindungen der Liebe besteht, Halt und Dauer garantiert. Dieser Bund ist wie ein Gehege, in dem die Liebe sich entfalten kann. Er beruht auf einer eindeutigen Entscheidung. Der Ausdruck "ich liebe dich" ist typisch für diesen Entscheidungscharakter. Jeder Zusatz wie "ich liebe dich sehr" oder "ich liebe dich außerordentlich" wird daher nicht wie sonst als Steigerung, eher als Abschwächung erfahren.

Im Idealfall sagt man auch nicht: "Ich liebe dich, weil du schön (oder klug oder stark oder musikalisch) bist." Denn dann liebt man nur etwas an dem anderen (was gewiß liebenswert ist); aber man liebt noch nicht den anderen selbst, so wie er wirklich ist. Im Idealfall müßte man sagen: "Ich liebe dich, weil du - du bist." Dann liebt man den anderen um seiner selbst willen, über alle Wechselfälle des Lebens, über Krankheit und Alter, ja über den Tod hinweg.

3. Erkennen des anderen

"Ich liebe dich, weil du du bist" bedeutet: "Ich erkenne, wer du bist; ich erfasse dich in deinem unverwechselbaren Wesenskern - und ich bejahe dich so, wie du bist." Eheliche Liebe (wie überhaupt jede Liebe) hat zunächst einmal mit Erkenntnis zu tun: Nur wenn ich jemanden kenne, dann kann ich ihn lieben. Und wenn ich ihn liebe, dann möchte ich ihn immer mehr kennenlernen. Umgekehrt gilt auch, daß ich Freude daran habe, wenn der, von dem ich mich geliebt weiß, immer besser mich kennenlernt. Deshalb suchen Liebende das Gespräch und die Gegenwart der geliebten Person, in immer intensiverer Form. Es hat einen tiefen Sinn, daß die Bibel die geschlechtliche Gemeinschaft "erkennen" nennt.

Wir kennen den anderen und kennen ihn doch wieder nicht, denn jeder Mensch ist ein unergründliches Geheimnis. Je weiter wir in die Tiefe unseres eigenen Seins oder das eines anderen Menschen hineingehen, umso mehr entzieht sich uns das, was wir erkennen möchten. Trotzdem hält die Liebe den Wunsch wach, in den innersten Wesenskern des anderen einzudringen. Und nur sie kann uns - wenigstens ein Stück weit - offenbaren, wie der andere wirklich ist.

Wahre Liebe macht sehend, nicht blind. Wenn ich jemanden gern habe, dann merke ich zum Beispiel, daß er sich ärgert, auch wenn er es zu überspielen versucht. Dann kann ich auch tiefer blicken und erfassen, daß der andere Angst hat oder sich schuldig fühlt. Sein Ärger ist also nur Ausdruck eigener Unzufriedenheit. Ich sehe in dem anderen dann den verängstigten und verwirrten, den leidenden und nicht den erbosten Menschen. Liebe führt zum Verständnis.

Am Beginn einer Ehe ist es wohl nur sehr unvollkommen möglich, den anderen zu erkennen, wie er wirklich ist - und die Entwicklung vorauszusehen, die er nehmen wird. Dazu braucht es Jahre des Miteinanders. Die Erkenntnis, die man mit der Zeit erwirbt, kann schmerzlich, aber auch befreiend sein. Vielleicht entspricht der andere nicht meinen ersten Eindrücken, nicht meinem Traumbild. Ich sehe immer mehr auch seine Grenzen und Schwächen, seine Fehler und Unvollkommenheiten. Doch je mehr ich mich von meinem Traumbild löse, desto tiefer erfasse ich auch die Einmaligkeit des anderen Menschen. (Jeder lebende Mensch ist ein Original; Phantasieprodukte dagegen sind höchst stereotyp, wofür die Kitschromane serienmäßig Beweise liefern.) Ich kann mir bewußt machen, daß der andere so ist, wie niemand vor ihm war und niemand nach ihm sein wird. Mit der Zeit erfasse ich dann immer mehr auch seine tiefsten Möglichkeiten. Ich erfasse also nicht nur, wie er ist, sondern auch, wie er sein kann und sein soll, wie seine Vollendung, seine tatsächliche "Selbstverwirklichung" aussehen könnte. Mir wird immer klarer, wie Gott ihn von Ewigkeit her gewollt hat und für alle Ewigkeit haben möchte. Daher gehört der Himmel auf irgendeine Weise zu jeder wahren Liebe mit dazu. Der Himmel ist hier als jener Ort zu begreifen, an dem alles vollkommen verwirklicht ist. Je mehr ich jemanden liebe, desto tiefer schaue ich in ihn hinein und desto mehr ahne ich etwas von seiner endgültigen Vollendung. Auch in diesem Sinne bringt die Liebe gewissermaßen den Himmel auf die Erde.

Das Erkennen des anderen soll uns natürlich nicht aus dem Leben entführen; es soll uns tief darin verankern. Je mehr ich erfasse, wie ein anderer ist und sein soll, desto mehr muß meine Liebe zu ihm wachsen. Ist dies nicht der Fall, so wird die Erkenntnis wieder schwinden, und es bleibt nur die enttäuschte und resignierte Erinnerung an ein Scheinbild, an eine Illusion. In dem Maße aber, in dem meine Liebe zunimmt, spüre ich den Wunsch, daß der andere möglichst gut, möglichst vollkommen, möglichst "er selber" sei, und ich werde bereit, ihm dabei zu helfen. Ich sehe immer mehr, daß meine persönliche Verwirklichung darin besteht, dem anderen zu seiner Verwirklichung zu verhelfen.

4. Geborgenheit

In der ehelichen Gemeinschaft stehen zwei Menschen sich ohne Maske gegenüber. Jeder wird "um seiner selbst willen" geliebt, aufgrund dessen, was er ist, und nicht dessen, was er hat. Man braucht sich nicht zu rechtfertigen und zu verteidigen, nicht durch Leistungen die Gunst erwerben. Nach sechszehn Ehejaaren erzählte eine Frau: "Mein Mann sagt immer: 'Ich habe dich geheiratet, weil ich es als selbstverständlich betrachten wollte, daß du da bist.' Das klingt zwar nicht sehr charmant, doch er meint damit: 'Bei dir fühle ich mich wohl. Auf dich kann ich mich verlassen. Es ist schön zu wissen, daß ich nicht dauernd um dich kämpfen oder einen guten Eindruck auf dich machen muß.'" Er meint damit auch: "Ohne dich kann ich mich selber nicht verstehen. Du gehörst zu mir. Du bist meine bessere Hälfte."

Ein entscheidender Augenblick in der Liebe zweier Menschen ist dann gegeben, wenn beide spüren, daß sie einander gehören. Diese Entdeckung begründet eine tiefe Vertrautheit und damit das Bedürfnis nach Geborgenheit in beide Richtungen: Man möchte den anderen bergen und sich von ihm bergen lassen.

Viele glückliche Eheleute haben längst darauf verzichtet, sich gegenseitig imponieren zu wollen. Jeder kann vor dem anderen ganz einfach Mensch sein, sich von allen Zwängen und Rollenspielen der Gesellschaft erholen. Dadurch schöpfen beide neue Kraft für neue Taten. Was macht es schon aus, daß man müde ist und sich schwach fühlt, wenn es einen Menschen gibt, der alles versteht? Was macht es aus, daß man sich täglich im Büro ärgert, wenn es einen Menschen gibt, bei dem man alle Sorgen abladen kann - und dessen Liebe mehr zählt als sämtliche Beleidigungen?

Natürlich ist es gar nicht immer einfach, in der Ehe ein Klima der Geborgenheit zu schaffen. Das erfordert Zeit und Einsatz; es ist sicher nicht nur eine Feierabendbeschäftigung. Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte des Partners müssen ernst genommen werden, psychische Belastungen und Empfindlichkeiten ebenfalls. Manchmal ist es angebracht, Unerfreuliches fernzuhalten, peinliche Situationen zu überbrücken, die innere Verletzlichkeit des anderen zu bedenken. Zweifellos gehört es auch zur Liebe dazu, mit wirklichem Interesse zuzuhören, was auch immer der andere zu erzählen hat. Kürzlich sagte ein (unglücklich) verheirateter Mann: "Früher habe ich sehr gern Geschäftsreisen gemacht, doch heute habe ich keine Freude mehr daran: Denn es gibt niemanden, dem ich hinterher davon erzählen könnte." Die Bereitschaft aufzunehmen, zu empfangen, am Leben des anderen teilzunehmen ist sicherlich eines der größten Geschenke, das man einem anderen Menschen machen kann. Leider gibt es viele, die zuhören und sogar Ratschläge erteilen, ohne innerlich beteiligt zu sein. Sie nehmen das, was der andere sagt, nicht ernst, und genauso wenig ernst nehmen sie ihre eigenen Antworten.

Ein häufiges Zeichen für Vertrautheit ist, ein Geheimnis zu teilen. Jede Ehe hat ihr Geheimnis, etwas, das nur den Partnern bekannt ist. Dabei kann es sich um ganz banale Dinge handeln, etwa daß sie die letzte Familienfeier unerträglich fand, oder daß er unter Höhenangst leidet. Jeder zeigt sich dem anderen, wie er ist. Man schämt sich nicht voreinander. Je näher die Ehepartner sich stehen, desto wahrscheinlicher ist es, daß das Geheimnis gewahrt wird. Wer jedoch das Wissen über den anderen mißbraucht, zeigt, daß er keine Liebe mehr hat.

Der Grad der Vertrautheit in einer Ehe hängt in hohem Maße davon ab, daß beide das Gefühl haben, dem anderen wichtiger zu sein als alles andere. In Gesprächen mit geschiedenen Frauen hört man überraschend oft: "Mein Mann gab mir nie das Gefühl, etwas Besonderes zu sein; ich bedeutete ihm nicht mehr als andere Menschen. Er machte sich keine Sorgen um mich; ich war ihm egal." Wenn wir auf einem Flughafen festsitzen und erfahren, daß wir mit einigen Stunden Verspätung nach Hause kommen, dann laufen wir zur nächsten Telefonzelle und rufen den an, der uns erwartet, damit er sich keine Sorgen mache. Und wenn wir niemanden haben, den wir anrufen können, weil eben niemand uns erwartet - dann fühlen wir uns vielleicht sehr einsam.

5. Geben und Empfangen

Wer liebt, der möchte das Glück des anderen. Deshalb beschäftigt er sich mit dem anderen, nicht etwa mit dem Genuß der eigenen Liebe. Der andere wird zum Gegenstand seines Denkens, Fühlens und Wollens, seiner Hoffnung und seiner Sehnsucht. Er lebt nicht nur mit ihm, sondern auch für ihn. Er möchte für den anderen dasein, ihm Gutes tun. Papst Johannes Paul II. sagt, wer wirklich liebt, der möchte dem anderen alles schenken, was man weder kaufen noch verkaufen kann, denn das ist am meisten wert. Wer liebt, gibt dem anderen etwas von sich selbst, von seinem eigenen Leben - etwas, das in ihm lebendig ist. Er gibt von seiner Freude und von seiner Traurigkeit, von seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, Erfahrungen und Zukunftsplänen, von seinem Wissen, seinen Interessen, seinen Überlegungen und seinem Humor - er gibt sich selbst. Indem er den anderen an seinem Leben teilhaben läßt, bereichert er ihn. Er steigert in ihm das Gefühl des Lebendigseins und verstärkt gleichzeitig dieses Gefühl auch in sich selbst. Er erweckt also in dem anderen etwas zum Leben, das dann auf ihn zurückstrahlt. Wenn jemand wahrhaft gibt, wird er ganz von selbst etwas zurückempfangen. Denn zum Geben gehört, daß man auch den anderen zum Geber macht, und beide haben ihre Freude daran.

Übrigens bedeutet das Geben nicht nur in der (ehelichen) Liebe zugleich auch Empfangen. Der Lehrer lernt von seinen Schülern, der Sportler wird von den Zuschauern angespornt, so mancher Psychotherapeut wird von seinen Patienten geheilt. Dies ist an sich in bester Ordnung, birgt aber auch eine Gefahr in sich: Man kann im Geben leicht sich selber suchen. Sogar in einem scheinbar uneigennützigen Tun kann man die Liebe verlieren. Selbst durch Güte kann man den anderen ins Unrecht setzen; durch demonstrative Hingabe kann man ihn geradezu beleidigen. Man denke nur an eine Frau, die sich in ihren Putzaktionen völlig verausgabt und dies dann ihrem Ehemann zum Vorwurf macht!

Ein wesentliches Element der Liebe ist die Selbstlosigkeit. Nur wenn man von sich selbst absieht, wenn man nicht ständig Lob und Anerkennung ergattern möchte, kann man am Leben eines anderen teilnehmen. Das setzt natürlich eine gewisse Reife und Unabhängigkeit voraus. Bevor man für andere dasein kann, muß man zu sich selbst gefunden haben. Bevor man andere annimmt, wie sie sind, muß man sich selbst angenommen haben. Und bevor man sich mit den Gedanken eines anderen auseinandersetzt, muß man sich eigene Gedanken gemacht haben. Sowohl der Mann als auch die Frau müssen fähig werden, selbständig zu denken und zu planen. Diese Selbständigkeit ist geradezu eine Vorbedingung für echtes Lieben-Können. Wenn ich an einem anderen Menschen hänge, weil ich nicht auf eigenen Füßen stehen kann, dann kann dieser andere vielleicht mein Lebensretter sein, meine Stütze, mein Stolz und mein Zuhause - aber Liebe ist unsere Beziehung nicht! Solange ich keine eigenen Überzeugungen habe, solange meine Handlungen nur Reaktionen und Echowirkungen auf die Verhaltensweisen der anderen sind, kann ich niemandem ein echter Partner sein.

Liebe ist nur auf der Grundlage der Freiheit möglich. Wer frei ist, hat nichts dagegen, sich hinzugeben, klein zu sein. Er gönnt dem anderen, was er vielleicht selbst entbehrt. Und nicht selten freut er sich sogar, daß der andere größer ist als er.

6. Enttäuschungen

Es wird deutlich, daß der eheliche Alltag sehr schön, aber auch recht anstrengend sein kann. Jeder erlebt Zeiten, in denen er schwach wird, sich gleichgültig fühlt, in denen er den Mut sinken läßt. Manchmal scheint es leichter, in äußere Korrektheit zu flüchten, als sich ständig neu auf den Partner einzustellen. Und es gibt nicht wenige Paare, die sich bewußt oder unbewußt diesen Lebensstil zu eigen gemacht haben. In vielen Ehen ist es still geworden, nicht weil man keine Zeit füreinander finden könnte, sondern weil man sich in der Tiefe gegen den anderen verschlossen hat. Wenn jedoch das eheliche Gespräch verstummt, fehlt mehr und mehr die Geborgenheit. Die Liebe verwildert, und dies drückt sich bisweilen im Sinken der Umgangsformen aus. Auch in der Sexualität kann es dann roh werden. Körperliche Nähe ohne ganzheitliche geistige Nähe, ohne Gleichklang im Denken und Wollen, wird zumindest von den meisten Frauen als Belastung empfunden.

Es kann nicht darum gehen, den Schwierigkeiten einfach auszuweichen. Manche Leute meinen, wenn sie sich lieben, dann dürfe es nie zu Konflikten kommen. Schmerz und Traurigkeit seien unter allen Umständen zu vermeiden. Doch das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Probleme gehören zum normalen menschlichen Leben einfach dazu. Sie sind nicht aus der Welt zu verbannen, wie übrigens auch die Krankheiten nicht. Wenn man meint, man hätte einen gefährlichen Krankheitserreger ausgerottet, dann taucht ein neuer auf. Früher kämpfte man gegen Pest und Cholera, heute gegen Krebs und Aids. Das ist die Wirklichkeit, die wir annehmen müssen. Wir können uns nicht in eine Scheinwelt verkriechen, in einen selbsterbauten Elfenbeinturm - wir können nicht immer Kinder bleiben. Genau das versuchen aber die Ehepartner, die jeden Konflikt umgehen wollen. Wenn sie sich angewöhnen, alles, was unangenehm ist, in stillschweigendem Einverständnis unter den Teppich zu kehren, dann können sie einige Zeit vielleicht einen Scheinfrieden zur Schau stellen. Doch sie bezahlen schließlich einen hohen Preis dafür: Denn bald langweilen sie sich miteinander und mit ihren oberflächlichen Gesprächen, und die Ehe gerät in eine Sackgasse. Vielleicht flüchten sie dann vor sich selbst und vor ihrem Partner - zu den Kindern oder zur Arbeit, in den Beruf oder ins Abenteuer.

Besser, es geht ab und zu laut und konkret zu, als daß die Liebe unter einer lähmenden Decke von falschen Rücksichtsnahmen erstickt. "Ein Haus ohne Streit gleicht einer Hochzeit ohne Musik," sagt ein türkisches Sprichwort. Ich kenne glückliche Ehen, in denen es sehr schmerzhafte Gespräche, ab und zu auch einen heftigen Streit, Tiefpunkte und Perioden der Unsicherheit gegeben hat. Aber nach jeder Auseinandersetzung rangen die Eheleute sich durch, den Anfang ihrer Lebensgemeinschaft noch einmal zu wiederholen: Sie sprachen erneut das Ja zueinander, bewußter und auch freier als beim ersten Mal.

Eine Ehekrise ist keine Katastrophe. Wer vor ihr davonläuft, hat sie überbewertet. Wer sie ignoriert, geht leichtfertig mit ihr um. Wir sollten die Chance entdecken, die in ihr verborgen ist. Durch Belastungen wird die Liebe reifer und tiefer; in jedem Sturm kann sie erneuert werden. Mit den Jahren liebe ich immer mehr, weil ich lieben will, weil ich den anderen zu meinem Ehepartner gewählt habe und bereit bin, Enttäuschungen zu verkraften.

Zur Ehe gehört nicht die gegenseitige Erfüllung von Wunschträumen, sondern der Mut, zu einem Menschen Ja zu sagen, der sich im Laufe der Jahre immer wieder anders verhält, als dies meinen Vorstellungen entspricht. Was in einer Ehekrise zerbrochen werden muß, ist nicht die Ehe; es sind die Träume und Illusionen. Und was wir in einer Ehekrise vor allem lernen können, ist die Bereitschaft zur Versöhnung. Das ist gar keine leichte Lektion, doch es ist wohl der einzige Weg, die Wunden, die wir uns gegenseitig zugefügt haben, zu heilen. Wir dürfen das Böse nicht nachrechnen. Wir dürfen kein "Konto" über die Verfehlungen des anderen führen. Wer sich um echte Liebe bemüht, der kann einfach nicht den geradezu perversen Satz aussprechen, den man öfter hört: "Ich verzeihe dir, aber vergessen werde ich nicht." Wenn wir alle Fehler eines Menschen speichern, dann können wir selbst das liebenswerteste Geschöpf in ein Scheusal verwandeln!

Wir müssen an die Möglichkeiten des anderen glauben und ihn dies auch spüren lassen. Manchmal ist es fast erschütternd zu sehen, wie ein Mensch aufblüht, wenn man ihm Vertrauen schenkt, wie er sich verändert, wenn man ihn größer einschätzt und entsprechend behandelt. Es gibt zahlreiche Frauen und Männer, die durch eine stille, unaufdringliche Verehrung ihre Ehepartner anspornen, besser zu werden. Sie vermitteln ihnen die Gewißheit, daß viel Gutes und Schönes in ihnen lebt, das es zu entfalten gilt. Und sie haben die Geduld, unermüdlich an dieser Entfaltung mitzuwirken.

7. Eheliche Treue

Der Mensch braucht ein ganzes Leben, um reif zu werden. Er ist dabei auf die Hilfe anderer und, sofern er verheiratet ist, besonders auf die Hilfe seines Ehepartners angewiesen. Der Mann braucht die Unterstützung seiner Frau, und diese braucht die Unterstützung ihres Mannes, um die verborgenen Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen. Christlich gewendet heißt das: Die Eheleute können sich gegenseitig helfen, möglichst vollkommen, ja heilig zu werden.

Hier zeigt sich die Bedeutung der ehelichen Treue. "Treue" zielt natürlich auf den sexuellen Bereich, läßt sich aber nicht darauf beschränken. Sie besagt, daß man zum Partner steht, und zwar in allen Dimensionen seiner Persönlichkeit. Im ehelichen Alltag ist die Treue normalerweise still und unauffällig zugegen, durch einfaches Beistehen und Dabeibleiben, in guten und in schlechten Zeiten. Man braucht die Hilfe des anderen vor allem im gewöhnlichen Einerlei, in den Erfordernissen der Familie und des Berufes. Man braucht sie aber auch dann, wenn man versagt, wenn man an sich selbst zweifelt, vielleicht auch schuldig geworden ist. "Du mußt zu deinen Freunden stehen, besonders wenn sie unrecht haben," sagt ein französisches Sprichwort. Wenn einer im Begriff ist, in den Abgrund zu stürzen - ist der Partner dann nicht umso mehr herausgefordert, mit ihm und um ihn zu ringen?

Das klingt für uns heute sehr idealistisch. Was soll man denn tun, wenn die Verfehlungen unerträglich sind? Wenn man grenzenlos ausgenützt wird, sich wehrlos fühlt, als Spielzeug empfindet? Was geschieht, wenn man dem anderen nicht mehr vertrauen kann, weil man gute Beweise dafür hat, daß man belogen wird?

In solchen Situationen sind die letzten Grundhaltungen des Menschen gefragt. Vielleicht wird manchmal die physische Trennung unumgänglich sein. Doch es lohnt sich, vorher alle Kräfte einzusetzen, um durchzuhalten. Was würde aus unserer Welt, wenn niemand mehr bei einem anderen ausharren könnte? Mit dem ehelichen Versprechen müssen wir höchst verantwortungsvoll umgehen. In ihm haben wir uns freiwillig an eine Person gebunden. Wenn wir es als Christen und vor Gott gegeben haben, dann haben wir uns mit dieser Person und gewissermaßen durch sie hindurch zugleich auch mit Christus verbunden. Das Treueversprechen wird auch Christus gegenüber vollzogen. Man schenkt sich nicht nur gegenseitig, man schenkt sich auch Christus in dem anderen. Die Ehegatten leben nicht nur füreinander. Im Grunde leben sie gemeinsam für Christus.

Das Wesen der christlichen Ehe besteht gerade darin, daß Partnerschaft und Nähe zu Gott unmittelbar zusammengehören. Mann und Frau erreichen sich mit ihrer Liebe nicht nur gegenseitig. Miteinander erreichen sie Gott selbst. In ihrer Liebe wird Christus mitgeliebt. Denn die Ehe stellt als Sakrament eine der sieben geheimnisvollen Quellen der Teilnahme am göttlichen Leben dar. Das bedeutet: Wenn die Ehegatten einander näher kommen, werden sie zugleich inniger mit Christus vereinigt. Wenn sie sich voneinander trennen, könnte es geschehen, daß sie sich auch von Christus trennen.

Manche Menschen fragen sich: "Kann ich wirklich in der Nähe meines ruinierten Ehepartners bleiben? Habe ich dann nicht teil an seinem inneren Chaos? Werde ich dann nicht von seinen bitteren und giftigen Gefühlen, von seinen Aggressionen überschwemmt? Ich muß mich schützen und von ihm abgrenzen!" Dieser Schutz ist tatsächlich manchmal nötig, wenn es sich um eine rein menschliche Freundschaft handelt. Doch wenn man hoffen darf, daß Gottes Liebe durch die Gemeinschaft hindurchwirkt, dann braucht man keine Angst zu haben. Man kann vertrauen, daß Gottes Liebe zu heilen vermag.

Die christliche Ehe gehört nicht nur zwei Personen, die sich füreinander entschieden haben. Sie gehört auch Christus. Das gibt ihr besondere Kraft und Innigkeit. Sie verbindet die Eheleute so eng mit Gott, daß sie, selbst wenn sie subjektiv unglücklich ist, objektiv fortbesteht.

Was nun ist zu tun, wenn die eheliche Situation ausweglos erscheint? Allgemeine und glatte Lösungen gibt es sicher nicht. Jede Ehe ist einmalig! Deshalb muß jedes Ehepaar seinen eigenen Weg finden. Nicht selten geschieht es, daß der Blick auf Gott einem verzweifelten Menschen die Kraft gibt, die er braucht, um trotz aller Schwierigkeiten durchzuhalten. Andere Male wird der Blick auf Gott auch die Klarheit schenken, die nötig ist, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Wie dem auch sei, in solchen Situationen äußerster Dunkelheit spüren wir gewöhnlich sehr deutlich, daß weder der Ehepartner noch sonst irgendein Mensch uns letztlich erfüllen kann - sondern nur Gott allein.

Viele Menschen finden in einem intensiven Glaubensleben den inneren Frieden zurück. Hier erhalten sie den Mut, auch weiterhin den anderen zu bejahen, sogar Elend und Schuld des Ehepartners auf sich zu nehmen und vor Gott zu tragen. Die eigene Müdigkeit und der eigene Mißerfolg treten dann in den Hintergrund. Nun kommen wir auf das zurück, wovon wir ausgegangen sind: Vorbild ehelicher Liebe ist für einen Christen nichts Geringeres als die Hingabe Christi am Kreuz! Das bedeutet nicht, daß die Ehe an sich ein Kreuz wäre oder eine Schule der Resignation. Ehe hat auch mit Glück zu tun! Doch es weist darauf hin, daß auch die Ehe ein Weg der Nachfolge Christi ist. Und Christus findet man in diesem Leben oft am Kreuz! Ein Mensch wird in der Ehe dem Leiden Christi insofern nachgestaltet, als dieses Leiden aus Liebe geschah. Aus Liebe litt Christus die Kreuzesqualen. Außerdem litt er in vollkommener Freiheit. Manchmal gibt es eheliche Situationen, die besonders stark an dieses freiwillige Leiden erinnern.

In jenen schwierigen Situationen kann man den Ehepartner wohl nur in einer besonderen Ausgestaltung der Nächstenliebe umfassen. Schuld kann man nicht bejahen, aber man kann sie mit dem anderen zusammen tragen und mit ihm zusammen sühnen. Es gibt bewundernswerte Frauen und Männer, die ihrem schuldig gewordenen Ehepartner verzeihen können. Sie nehmen selbst das Versagen und den Wankelmut des anderen an und lassen ihn immer wieder spüren, daß sie in ihm den sehen, der er werden soll. So hoffen sie, daß in ihrem Partner - langsam - neue Möglichkeiten erwachen. Wo auf diese Weise an der ehelichen Liebe bis zum Ende, ja bis zum Zerbrechen aller irdischen Hoffnungen festgehalten wird, da ist Gott sicherlich immer sehr nah!

Zweifellos gibt es eheliche Situationen, die sehr hart, fast untragbar sind. Menschen, die unter ihnen leiden, verdienen das Verständnis, die Unterstützung, nicht selten auch die Bewunderung der Mitwelt. Stattdessen ist es üblich, über sie zu tuscheln und zu urteilen! Ich denke, wir sollten uns ernsthaft bemühen, diese gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu ändern. Nur dann werden wir wirksam zu der "Zivilisation der Liebe" beitragen können, von der unser Heiliger Vater so gern spricht.

8. Gebet füreinander

Es gibt also unglückliche Ehen, das ist ein offenes Geheimnis. Aber es gibt auch sehr viele glückliche Ehen. Ob wir nun in der einen oder anderen Situation leben, als Christen haben wir immer ein Mittel, das uns ermöglicht, dem Partner sehr wirksam zu helfen. Manche Ehepaare haben es nach langen Jahren neu entdeckt. Ich meine das Gebet füreinander.

Im Gebet begegne ich vor allem Gott; aber ich begegne in besonderer Weise auch den anderen Menschen. Wenn ich für einen anderen bete, dann sehe ich ihn mit neuen Augen, nicht mehr von meinem Ärger oder meiner Enttäuschung, sondern von Gott her. So kann ich wieder Hoffnung schöpfen. Ich lasse meine Vorurteile los und spüre Wohlwollen gegenüber dem anderen. Ich möchte ihm gerechter werden, und oft fällt mir gerade im Gebet ein, was ich ihm sagen oder für ihn tun kann.

Beten heißt zuerst, das eigene Herz zu läutern, damit andere tatsächlich Platz darin haben. "Wie kann ich irgend jemand in mein Gebet hineinnehmen, wenn darin gar kein richtiger Platz für ihn ist, wo es frei und entspannt zugeht? Wenn ich immer noch voller Vorurteile, Eifersuchtsgedanken und zorniger Gefühle bin, wird jeder, der eintritt, verletzt werden" (Nouwen). Wir müssen in unserem Inneren einen Raum für die anderen schaffen. Wir müssen ihnen in unserem Herzen einen gastlichen Platz anbieten, an dem wir sie mit all ihren Ängsten und Schmerzen zu bergen vermögen.

Wenn wir das erreichen, dann wird es leichter sein, daß andere Vertrauen zu uns haben. Manchmal meinen wir, wir könnten unsere negativen Gefühle und Gedanken einfach überspielen; es komme nur darauf an, sich nach außen hin anständig zu verhalten. Und wir wundern uns, daß die anderen so mißtrauisch sind! Der Grund ist sehr einfach: Die anderen spüren normalerweise ganz genau, was in uns vorgeht. Sie merken, ob sie abgelehnt oder bejaht werden, und verhalten sich entsprechend. Hier sehen wir noch einmal, wie wichtig es ist, daß jeder bei sich selbst aufräumt, bevor er etwas von den anderen verlangt.

9. Schluß

Vielleicht gibt es die Liebe auf den ersten Blick, sicher aber nicht das Gelingen einer Ehe auf Anhieb. Die Ehe entfaltet sich in all den schönen und schweren Prozessen, die zur Begegnung zweier Menschen gehören, die so verschieden sind, wie eben nur zwei Originale verschieden sein können. Sie kennt harte Phasen und Durststrecken. Diese können als Auftrag verstanden werden, miteinander zu reifen, sei es auch über viele Irrwege hinweg. Gerade auch in den Schwierigkeiten haben zwei Menschen die Möglichkeit, immer tiefer zu erfassen, wozu die Liebe fähig macht - eine Liebe, die nicht mehr träumt, sondern sieht.

Gewiß, eheliche Liebe ist exklusiv, aber sie liebt im anderen die ganze Menschheit. Sie ist exklusiv nur in dem Sinne, daß man sich mit ganzer Intensität eben nur mit einem einzigen Menschen vereinigen kann. Doch wenn ich einen einzigen Menschen wirklich liebe, dann wird das Herz weit gemacht und ich wende mich auch vielen anderen zu.

Die fröhlichsten Eheleute sind wohl die, die sich gar nicht so sehr um das eigene Glück kümmern. Sie suchen nicht ständig den eigenen Vorteil, und sie verfolgen auch nicht das ebenso kleinkarierte Ziel, sich ins eigene, warme Nest einzuigeln. Im Gegenteil, sie wollen ihr Glück und ihre Liebe den anderen Menschen weitergeben - den eigenen Kindern, den Verwandten, Freunden, Nachbarn und Berufskollegen.

So ist die Ehe ein wahres Kunstwerk der Liebe - ein Kunstwerk, an dem Mann und Frau bauen, ändern, korrigieren und neu gestalten, ein ganzes Leben lang. Sie erfordert Einsatz und Mühen. Daran ermahnt uns der christliche Glaube, wenn er die eheliche Liebe mit der Hingabe Christi am Kreuz vergleicht. Er lehrt uns aber auch, daß gerade durch diese Hingabe Glück und Erlösung in die Welt kamen. Wenn wir gerufen sind, das Handeln Christi mit unseren geringen Kräften nachzuahmen, so ist das als Auszeichnung zu verstehen, nicht als Behinderung: Auch wir dürfen dazu beitragen, daß die Menschen um uns froher werden und ihr ewiges Ziel erreichen. Und wir können sicher sein: Was wir am Ende unseres Lebens in den Händen halten, das ist nicht unser Geld und auch nicht unser Erfolg. Was unsere wirkliche, ewig andauernde Existenz aufbaut, ist die Liebe, die wir gegeben und empfangen haben - sonst nichts.