21.9.06

Zerstört Der Feminismus die Familie ?

1. Vorbemerkung

Kürzlich las ich einen Artikel, der weitschweifig zu erklären versuchte, daß der Feminismus die Familie zerstört. Ich war, offen gesagt, etwas erstaunt und begann nachzudenken. Zerstört der Feminismus wirklich die Familie? Unwillkürlich fiel mir ein Erlebnis ein, das ich vor einiger Zeit in Südamerika hatte. In Santiago de Chile sagte man mir, eine berühmte (und als energisch bekannte) Feministin wolle mit mir über Frauenfragen diskutieren. Es handelte sich um die Gründerin und Rektorin einer mittelgroßen Privatuniversität. Wir vereinbarten einen Termin. Ich machte mich auf die heftigsten Auseinandersetzungen gefaßt und ging einige Tage später mit einer gewissen Angriffslust zu unserem Treffen in die besagte Uni. Als ich das Rektorat betrat, fiel mir als erstes auf, daß dort an der Wand ein großes Bild der Gottesmutter hing. Daneben gab es ein fast ebenso großes Bild von unserem Heiligen Vater, Johannes Paul II.. Die Rektorin selbst war eine sehr gepflegte, freundliche Frau. "Ich setze mich dafür ein, daß die Frauen studieren können und Arbeitsplätze bekommen", sagte sie mir. "Ich träume vom Hausfrauengehalt und von der Abschaffung der Pornographie. Man nennt mich Feministin, weil ich alle Briefe, die an den Rektor dieser Universität gerichtet sind, zurücksende; denn es gibt hier nur eine Rektorin." Und dann fügte sie lächelnd hinzu: "Dabei habe ich gar nichts gegen die Männer. Ich bin seit langem verheiratet und liebe meinen Mann mehr als vor dreißig Jahren."

Sicher werden Sie mit mir übereinstimmen, daß solch ein Feminismus die Familie keinesfalls zerstört. Ich denke sogar, daß dieser Feminismus für die eheliche Gemeinschaft und die Familie äußerst förderlich ist. Denn er gibt der Frau die Würde zurück, die ihr bekanntlich in einigen Epochen und Kulturen abgesprochen worden ist und zum Teil auch heute noch abgesprochen wird. Ja, auch heute noch, und das ist weder Ideologie noch Übertreibung. Nun brauchen wir gar nicht an die verschleierten Frauen in Saudiarabien zu denken und auch nicht an jenes westafrikanische Volk der Lyéla, die ihre Gattinnen als wichtigsten Teil des Erbes betrachten. (Eine der Formeln, mit denen ein Lyél seinen ältesten Sohn offiziell als Nachfolger einsetzt, lautet entsprechend: "Ich übergebe dir mein Land und meine Frauen.")[1] Wir müssen auch nicht hochmütig den Raub der Bräute im kriegerischen Sparta verurteilen[2] und das sogenannte finstere Mittelalter beweinen (das so "frauenfeindlich" übrigens gar nicht war).[3] Wie gesagt, so weit brauchen wir nicht zu gehen. Wie steht es mit der Achtung der Frau in unserer Gesellschaft, in unseren Familien? Auch heute noch wird die Frau auf zahlreichen Werbeplakaten und in Kinofilmen, in "bunten Blättern" und Stammtischgesprächen als nicht ganz zurechnungsfähig, als Dekorations- und Ausstellungsstück, als Objekt männlicher Begierden hingestellt. Ihr Einsatz in Haus und Familie wird noch längst nicht gebührend geschätzt und unterstützt. Kommt es nicht immer noch vor, daß ein Sohn, nur weil er männlich ist, nach dem ausgiebigen sonntäglichen Mittagessen mit dem Vater vor dem Fernseher sitzen darf, während die Töchter mit der Mutter in der Küche verschwinden? Oder daß eine junge berufstätige Mutter sich allein mit dem Haushalt abrackern muß und zur Belohnung den Vorwurf bekommt, sie kümmere sich nicht genug um ihren teilzeitbeschäftigten Ehemann und um die Kinder - und obendrein sei die Wohnung nicht ganz sauber? Wie viele nicht berufstätige Ehefrauen müssen auch heute noch jeden Groschen von ihrem Mann erbetteln und haben weder Zugang zum Konto noch Übersicht über die Geldangelegenheiten ihrer eigenen Familie! Wie viele dürfen das gemeinsame Auto fahren? Zugegeben, das sind oberflächliche Fragen. Doch sie bringen zum Ausdruck, wie viel (oder wie wenig) Verständnis und Liebe den Frauen in ihren sicher oft schwierigen Situationen entgegengebracht werden.

Es gibt also eine Frauenförderung, die durchaus sinnvoll und angemessen, ja sogar notwendig ist. Sie bemüht sich darum, daß die Menschenrechte nicht nur Männerrechte seien, daß beide, sowohl der Mann als auch die Frau, in ihrem Personsein an- und ernstgenommen werden. Und sie bemüht sich darum, jeden einzelnen Menschen in seiner Individualität zu erfassen, niemanden auf ein Klischee festzuschreiben. Das gilt übrigens in jedem Sinn. Heute zweifelt wohl niemand mehr daran, daß auch eine Frau die komplizierteste Technik beherrscht. Doch deshalb müssen nicht alle Frauen Technikerinnen werden und am Computer ihre Freude haben. "Die emanzipierte Frau ist Managerin, vielleicht auch Architektin oder Büroangestellte, auf jeden Fall außerhäuslich tätig" - so lautet das neue Dogma. Doch warum sollte die "emanzipierte" Frau nicht Mutter einer kinderreichen Familie sein, sofern man Emanzipation als gelungenen Reifungsprozeß versteht? Wenn eine Frau lieber Kuchen backt und Jacken strickt, mit Kindern spielt und ein gemütliches Zuhause zu schaffen sich bemüht, so heißt das nicht, daß sie sich resigniert in die Rollenerwartungen des 19. Jahrhunderts eingefügt hätte. Es heißt einfach, daß für sie etwas anderes wichtig ist als für ihre Kritikerinnen. In erster Linie kommt es doch nicht darauf an, was jemand tut, sondern wie er es tut. Weder Beruf noch Familie sind von sich aus Lösungen für persönliche oder zwischenmenschliche Probleme; beide bergen Chancen und Risiken in sich. So ist es durchaus möglich, daß gerade eine berufstätige Frau wegen der ständigen Spezialisierung ihrer Tätigkeit überaus "eng" wird, während eine Hausfrau, die täglich die unterschiedlichsten Arbeiten bewältigt, an Weite gewinnt. Die Frau im Beruf ist den gleichen Gefahren ausgesetzt wie der Mann - übertriebenem Karrieredenken, einseitigem Streben nach Macht... -, vielleicht sogar noch etwas mehr, da sie - auch heute noch - von ihren Kollegen besonders hart geprüft und kritisch beurteilt wird.

Damit möchte ich nicht sagen, daß alle Frauen ins traute Heim zurückkehren müssen. Ich denke nur, daß man jedem ermöglichen sollte, frei und gelassen das zu tun, was er als gut erkennt, ohne immer wieder neue Polemiken anzuzetteln. Es ist viel zuviel darüber diskutiert worden, ob und inwiefern Frauen anders seien als Männer. Zunächst einmal ist jeder Mensch anders als alle anderen Menschen. Jeder muß die Gelegenheit bekommen, sich frei zu entfalten, glücklich zu sein und andere glücklich zu machen - egal auf welchem Lebensweg, in welchem Stand oder Beruf. Frauen haben es da in historischer und gesellschaftlicher Perspektive manchmal etwas schwerer gehabt als Männer. Ihnen muß daher in besonderer Weise geholfen werden, der eigenen Bestimmung entsprechend zu leben. Darum bemüht sich ein Feminismus, den wir "angemessen" nennen können. Da ich Christin bin und die wahre Frauenförderung mit meinem Glauben in Verbindung bringe, würde ich hier vom "christlichen Feminismus" sprechen. Darauf kommen wir später zurück.

2. Der Radikalfeminismus

Nun sind wir fast beim Thema. Es gibt, wie schon angeklungen, auch eine andere Art des Feminismus, der in den westlichen Ländern sehr verbreitet ist. Er ist öfter als "Extrem"- oder "Radikal"-Feminismus bezeichnet worden. Es scheint mir, daß er - zumindest was seine Selbstdarstellung betrifft - den Höhepunkt bereits hinter sich hat. Doch nun ist seine Breitenwirkung festzustellen; überall kann man seine Auswirkungen antreffen, und zwar in zunehmendem Maße. Diese sind schlichtweg verheerend. Wir alle kennen zur Genüge das Gerede vom "Mythos der Mutterschaft", den es zu zerstören gelte, oder vom Macho, den frau vertreiben muß. An einigen Formulierungen wird deutlich, daß die Grenze zur Absurdität längst überschritten ist.

Bekanntlich gilt die französische Philosophin Simone de Beauvoir als wegbereitende Feministin unseres Jahrhunderts. Ihr Einfluß ist nicht leicht zu überschätzen.[4] Ihre Monographie "Le Deuxième Sexe" (erstmals erschienen 1949, deutsch 1951), wird oft als "Bibel der Frauenbewegung" bezeichnet.[5] Hier postulierte Simone de Beauvoir zum ersten Mal mit ungeheurer Schärfe die Gleichheit der Geschlechter und gab damit den Anstoß zu einer neuen, radikalen Frauenbewegung in der westlichen Welt, der es längst nicht mehr allein um verbesserte Rechte und höhere Bildungschancen geht.

Zu Beginn ihres Hauptwerkes umreißt die Philosophin ihre weltanschauliche Position. "Unsere Perspektive", erklärt sie, "ist die der existentialistischen Ethik"[6] - "es ist diejenige von Heidegger, von Sartre (ihrem Lebensgefährten) und von Merleau-Ponty."[7] "Existentialismus", von Sartre in einen Buchtitel aufgenommen, erscheint in dieser Sicht als bewußte Absage an alles Wesensdenken. Es gibt "keine menschliche Natur", sagt Sartre, "da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen."[8] Sartre beruft sich darauf, daß jeder Mensch imstande ist, sich zu dem zu machen, was er will, ohne dabei von einem Schöpfer Maß und Orientierung zu erhalten.[9]

Simone de Beauvoir ist nun bestrebt, den atheistischen[10] Existentialismus Sartres auf das weibliche Dasein zu übertragen.[11] Auch für sie ist der Mensch nicht ein "gegebenes Wesen" oder eine "starre Realität", sondern er ist "eine historische Idee", "ein Werden", - "das sich zu dem macht, was es ist."[12]. In der Ethik Beauvoirs kann jede Art von "Stillhalten" oder "Passivität" folglich nur als großes Übel betrachtet werden.[13] Aber gerade zu diesen Haltungen sei die Frau von den Männern immer wieder gezwungen worden.

Nach Simone de Beauvoir hat die Welt schon seit den nomadischen Urzeiten dem Mann gehört.[14]. Denn dieser habe schon immer durch Handlungen, die "über sein tierisches Dasein hinausgehen", in der Welt gewirkt: Als Jäger und Fischer erfand er Werkzeuge, setzte Zwecke und plante Wege. Ständig überschritt er die Gegenwart und eröffnete die Zukunft.[15] Das Privileg des Mannes bestehe darin, "daß seine Berufung als Mensch mit seinem Schicksal als Mann nicht kontrastiert."[16] Bei der Frau hingegen sei das ganz anders. Frauen seien bis heute daran gehindert worden, gestaltend in die Gesellschaft einzugreifen. Sie seien "isoliert" worden, man habe ihnen den "Ausblick verwehrt", sie stünden nun abseits.[17] Letztlich blieben sie ihr Leben lang der Immanenz verhaftet. Schuld an allem sei die traditionelle Ehe (mit der "Arbeitsteilung" der Geschlechter) und vor allem die Mutterschaft.

Die Entwertung von Ehe und Mutterschaft durchzieht das Werk Beauvoirs wie ein Leitmotiv. "Auf alle Fälle sind Gebären und Stillen keine Aktivitäten, sondern natürliche Funktionen, kein Entwurf ist dabei im Spiel, und daher kann auch die Frau darin keinen Grund einer hochgestimmten Bejahung ihrer Existenz finden."[18] Jahrtausendelang habe die Frau sich damit begnügt, nur ein "relatives Leben" - für Mann und Kinder - zu führen. "In Wirklichkeit ist sie für den Mann nur eine Zerstreuung, eine Gesellschaft, ein unwesentliches Gut. Er ist der Sinn, die Rechtfertigung ihrer Existenz."[19] Der Mann wiederum habe seine Vormachtstellung durch die Bildung von Institutionen und Mythen immer mehr gefestigt.

Anhand vieler Beispiele aus Literatur und Kultur analysiert Simone de Beauvoir den Mythos der Frau, wie ihn die Männer für ihre Zwecke geschaffen haben, und kommt zu dem Schluß: "Er ist so schillernd, so widerspruchsvoll, daß man zunächst die Einheit nicht sieht: als Dalila und Judith, Aspasia und Lucretia, Pandora und Athene ist die Frau immer Eva und Jungfrau Maria zugleich. Sie ist Idol und Magd, Quell des Lebens und Macht der Finsternis; sie ist das urhafte Schweigen der Wahrheit selbst und dabei unecht, geschwätzig, verlogen; sie ist Hexe und Heilende; sie ist Beute des Mannes und seine Verderberin; sie ist alles, was er nicht ist und was er haben will, seine Verneinung und sein Daseinsgrund"[20] - eben das "andere" Geschlecht.

Selbstverständlich wehrt sich Simone de Beauvoir gegen alle diese Festschreibungen. Frauen seien weder Engel noch Dämonen noch Sphinxe, sondern vernünftige menschliche Wesen.[21] Ihre vom Mann sowohl geforderte als auch gefürchtete Naturnähe bedeute eine radikale Beschränkung ihres menschlichen Potentials. Denn wenn sie ihren Körper auch nicht verleugnen oder ignorieren könnten, so würden sie in ihrer existentiellen Freiheit doch nicht von ihm bestimmt. Unbestritten hat Simone de Beauvoir auch treffende Einsichten; sie führt diese aber zu einer ideologischen Verengung, wie an ihrem berühmten Aphorismus deutlich wird: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es."[22] - später ergänzt durch den logischen Schluß: "Man wird nicht als Mann geboren, man wird erst dazu! Auch das Mannsein ist keine von Anfang an bestehende Gegebenheit."[23]

Die Frau ist für Beauvoir hauptsächlich ein "Zivilisationsprodukt".[24] Sie "ist nicht das Opfer eines geheimnisvollen, unabwendbaren Schicksals"[25], sondern einer sehr konkreten und änderbaren Situation, in der der "Mythos der Mutterschaft" letztlich immer als Vorwand gedient habe, um die Frauen dazu zu bewegen, die Hausarbeit zu verrichten.[26] Die Frau ihrerseits habe lange Zeit vor ihrer Situation kapituliert. "Weil sie nicht wahrhaben will, daß das Negative, der Schmutz, das Böse ihr Teil geworden ist, ereifert sich die manische Hausfrau voller Wut gegen den Staub, beansprucht ein Schicksal, das sie empört."[27] Sie habe verzweifelt und erfolglos versucht, den Mann in das "Gefängnis" ihrer engen Welt hineinzuziehen, sei als Mutter, Gattin oder Liebende "klettenhaft", Schmarotzer[28] oder Kerkermeisterin[29] geworden. Der Mann seinerseits habe die Frau wie eine Sklavin behandelt und ihr gleichzeitig eingeredet, eine Königin zu sein.[30] Heute aber nehme der Kampf eine andere Gestalt an: "Statt den Mann in ihrem Gefängnis miteinschließen zu wollen, versucht die Frau, aus diesem herauszukommen. Sie sucht nicht mehr, ihn in die Region der Immanenz hineinzuziehen, sondern selbst in das Licht der Transzendenz emporzutauchen."[31] Der Mann tut gut daran, ihr bei ihrer Emanzipation zu helfen: indem er sie befreie, könne er sich selbst (von ihr) befreien.[32]

Wie sieht nun die Emanzipation der Frau aus? Nach Simone de Beauvoir kann kein Zweifel daran bestehen, daß alles, was der Frau als "Kette" oder "Fessel" auferlegt worden ist, entschieden durchbrochen werden muß. Die existentialistische Philosophin entwirft eine radikale Ethik[33], in der sie Heirat[34] und Mutterschaft[35] einerseits, Verbot der Abtreibung[36] und Scheidung[37] andererseits als "Zwangsmaßnahmen der patriarchalischen Gesellschaftsformen"[38] zu entlarven sucht. Frauen haben sich nach ihren Worten entschieden "vor der Falle der Mutterschaft und Heirat" zu hüten.[39] "Ich beklage die Sklaverei, die der Frau durch die Kinder aufgezwungen wird...Wie viele Feministen bin auch ich für die Abschaffung der Familie,"[40] sagt sie deutlich. Darüber hinaus sympathisiert Beauvoir mit künstlicher Befruchtung[41], lesbischer Liebe[42] und Euthanasie.[43] Heilmittel aus der Abhängigkeit des Mannes sei die Berufstätigkeit der Frau[44], womit endlich "eine vollkommene wirtschaftliche und soziale Gleichheit"[45] der Geschlechter erlangt werden könne.

Einige der heutigen Radikalfeministinnen weisen in konkreten Punkten weit über Simone de Beauvoir hinaus, doch alle gehen von den Grundsätzen ihrer französischen Kollegin aus. So wendet sich Betty Friedan, die Begründerin der amerikanischen Frauenbewegung der sechziger Jahre, in ihrem Welterfolg "The Feminin Mystique"[46] vehement dagegen, daß Frauen in Ehe, Familie und Haushalt lediglich der "Erfüllung ihrer Weiblichkeit"[47] verpflichtet seien und an ihrer geistigen Fortentwicklung gehindert würden.[48] Ähnlich greift die Amerikanerin Kate Millett in ihrem Buch "Sexual Politics"[49] deutlich auf "Le Deuxième Sexe" zurück: Die Frau sei zwar zu Empfängnis, Austragung und Geburt eines Kindes bislang noch unentbehrlich, sonst aber habe sie keine besondere Bindung oder Verpflichtung dem Kind gegenüber. Shulamith Firestone schließlich, die radikalste aus dieser Gruppe, zielt erklärterweise darauf, durch den Feminismus alle wichtigen Strukuren der Gesellschaft zu zerschlagen.[50] In "The Dialectic Sex" fordert sie die Befreiung der Frau von der "Tyrannei der Fortpflanzung"[51] durch jedes nur mögliche Mittel. "Ich will es ganz deutlich sagen: Die Schwangerschaft ist barbarisch."[52]

Im deutschen Feminismus ist die Journalistin Alice Schwarzer nach wie vor eine herausragende Gestalt. Nach einem längeren Parisaufenthalt organisierte sie Anfang der siebziger Jahre zunächst einmal die Kampagne gegen den Paragraphen 218[53], brachte 1975 einen Bestseller auf den Markt[54] und profilierte sich schließlich als Herausgeberin der ersten und bisher am meisten verbreiteten feministischen Zeitschrift "Emma". Die in ihren Texten zu findende Mischung aus flottem Jargon, menschlicher Problemdarstellung und Enttabuisierung gesellschaftlicher Normenvorstellungen ist gewiß nicht neu, wird aber jetzt, ausschließlich auf Frauen angewandt, zum Politikum.

Obwohl Alice Schwarzer ihre Bewunderung für Simone de Beauvoir, die sie in Paris persönlich kennenlernte, immer wieder herausstreicht[55], ist sie in der praktischen Anwendung der feministischen Ideen doch noch radikaler als ihr französisches Vorbild. Sie verbreitet zwar die Thesen von "Le Deuxième Sexe" und der amerikanischen Frauenbefreiungsbewegung; letztlich aber geht es ihr nicht um die Frage der theoretischen Gleichheit der Geschlechter, sondern darum, wie die Frau - wertvoller und liebenswerter als der Mann - von der unerträglichen männlichen Übermacht loskommen könne. Macht, meint Alice Schwarzer, bestimme allein das gegenwärtige Verhältnis von Männern und Frauen und könne nur durch Gegenmacht gebrochen werden.[56] Für sie ist der Mann der Feind, dem sie ein langes Sündenregister vorwirft. "Jeder Versuch einer Befreiung der Frau", fordert sie, "wird sich darum kollektiv und auch individuell direkt gegen männliche Privilegien richten müssen, das heißt, auch gegen den eigenen Mann."[57] Sie ruft die Frauen auf, ihre Macht zu dokumentieren und sich den Männern zu verweigern, - die "zum Dogma erhobene Heterosexualität"[58] zu verwerfen und sich der Bi- und Homosexualität zuzuwenden. Mit anderen Worten: Schwarzer faßt die Macht des Geschlechtlichen als politische Macht; im Zentrum der Beziehungen zwischen Mann und Frau will sie eine Revolution auslösen, aus der die vom männlichen Machtprinzip endlich befreite Frau hervorgehen soll. Diese Frau könne dann positiv auf die Gesellschaft zurückwirken.

Konsequenterweise wendet sich Alice Schwarzer gegen die "Ideologie vom eigenen Kind" und kämpft gegen alle bestehenden Mutter-Kind-Bande, die nur dazu beitrügen, die letzten Bastionen der Männergesellschaft zu schützen.[59] Die Erziehungsarbeit müsse weitgehend vom Kollektiv übernommen, die Hausarbeit müsse industrialisiert werden. Das heißt für sie:"ausreichend 24-Stunden-Krippen und -Kindergärten, die von Frauen und Männern betrieben werden."[60]

Die leidenschaftliche Verurteilung - mehr noch: die universelle Verfluchung - alles Männlichen scheint bei der amerikanischen Feministin Mary Daly einen kaum noch zu überbietenden Gipfel erreicht zu haben. Daly dokumentiert in einem ihrer Erfolgswerke, das 1978 erstmals erschien,[61] bis in alle abstoßenden Einzelheiten jede Art von Grausamkeit, die Männer von Anbeginn der Zeit an jemals Frauen zugefügt haben. Dabei stellt sie dem "verseuchenden", "vergiftenden", "verheerenden" Übel der Männerherrschaft die "elementare Reinheit" der Frauen plakativ gegenüber. Die Thesen von "Le Deuxième Sexe" werden so gesteigert, daß man sie beim besten Willen nicht mehr ernst nehmen kann.

Trotzdem zeigt die Emanzipation deutliche Wirkungen. Gab es beispielsweise 1979 noch vierzehn Millionen Kinder und vierzehn Millionen Autos in Deutschland, so zählte man 1991 nur noch neun Millionen Kinder, aber achtundzwanzig Millionen Autos.[62] Vielleicht signalisiert dies, was des Deutschen liebstes Kind geworden ist.

Nun ist allerdings der Versuch, sich von den "Ketten der Natur" zu lösen, seit einiger Zeit nicht mehr die einzige Spielart des radikalen Feminismus. Aus manchen Ökologiedebatten und vor allem aus der Szene des sog. "kulturellen" Feminismus Nordamerikas klingen auch ganz andere Töne. Während ein Teil der Feministinnen fundamentale Differenzen zwischen Frauen und Männern weiterhin vehement bestreitet, sind andere dazu übergegangen, die Unterschiede zu feiern. In der Tat gibt es eine immer stärker werdende Richtung im Feminismus, die in der Gleichsetzung der Frau mit Natur, Körper, Gefühl und Sinnlichkeit kein verdammenswertes männliches Vorurteil mehr sieht. Im Gegenteil wird alles Emotionale, Vitale und Sinnliche geradezu als Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft begrüßt. Nachdem "männliche" Rationalität und Herrschsucht die Menschheit an den Rand des ökologischen Abgrunds und in die Gefahr der atomaren Vernichtung getrieben habe, sei nun die Zeit der Frau gekommen. Rettung lasse sich nur noch von dem Unlogischen und Gefühlsmäßigen, dem Sanften und Weichen erwarten, wie es sich in der Frau verkörpere.[63]

Nachdem der Kinderwunsch jahrzehntelang verdrängt und geleugnet worden ist, wird er nun, als rein "leibliches Bedürfnis"[64], in immer mehr feministischen Selbsterfahrungsgruppen wiederentdeckt.[65] Dies könnte eine Reaktion sein auf die Überanstrengungen durch eine Emanzipation, die zu sehr als Anpassung an männliche Werte und als Konkurrenzkampf begriffen worden ist.

Natürlich bedeutet der Kinderwunsch nicht ein zurück zur bürgerlichen Familie. Die Feministinnen interessieren sich weniger für die sozialen Realitäten der Mutterrolle als vielmehr für die Zusammenhänge zwischen dem Leben der Frauen, dem weiblichen Körper und den Erfahrungen von Gebären und Stillen. "Frauen müssen und werden die Erde befreien, weil sie in größerer Harmonie mit der Natur leben", so lautet die bekannteste These.[66] Dieser wird nun mit neuer Heftigkeit die Gleichheitstheorie Beauvoirscher Prägung entgegengesetzt.[67] So schließt sich der Kreis.

Man muß allerdings nüchtern feststellen, daß die Welt im Zeitalter des Feminismus weder humaner noch überlebensfähiger wurde, sondern mehr denn je durch Selbstauslöschung gekennzeichnet ist. Die rasante Zunahme psychischer und psychosomatischer Leiden, die schrankenlose Gewaltkriminalität und der steigende Suchtmittelmißbrauch sind Ausdruck einer immer größeren Halt- und Hilflosigkeit, über die weder ein herrisches Emanzipationsgebaren noch das Gerede von der "neuen Weiblichkeit" hinwegtäuschen können.

3. Patchwork-Familien

Wenn man feministische Manifeste liest, könnte man zu dem Schluß kommen: Der Radikalfeminismus zerstört die Familie. Das ist doch wohl sein erklärtes Ziel! Aber so einfach ist die Sache nicht. Auch diese Aussage muß noch weiter differenziert werden.

Blicken wir uns um, dann stellen wir fest, daß das Familienleben in unserer Gesellschaft durchaus "in" ist. Drei Viertel der Europäer zum Beispiel verbringen den Urlaub mit ihren Familien, oft mehrere Generationen zusammen, in verschiedensten Kombinationen. Auf Campingplätzen oder in Ferienwohnanlagen wird das besonders deutlich. Trotz aller Warnungen von Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer, trotz der steigenden Lust, Karriere zu machen und reich zu werden, sehen wir überall, daß Paare eine Familie gründen und Kinder zur Welt bringen. Obwohl es angeblich leichter ist, allein zu bleiben, um sich zu verwirklichen, besteht die größere Mehrheit der Menschen auch heute darauf, eine Familie um sich zu scharen.

Selbst bekannte Autorinnen aus der Frauenszene wissen das Familienleben wieder zu preisen. Die Argentinierin Ester Vilar etwa hebt hervor, daß auch bei völliger Gleichbehandlung in vielen Familien die Frauen abends seltener ausgehen würden als die Männer. Doch das wäre gar nicht schlimm, meint sie: "Denn daß das Glück, in einer verrauchten Kneipe ein Glas Bier zu trinken, so viel größer ist als das, das man empfindet, wenn man in einem stillen Haus den Schlaf eines kleinen Kindes bewacht, müßte erst noch bewiesen werden."[68] Und Christiane Collange, eine der bekanntesten Feministinnen Frankreichs, ergänzt erstaunlicherweise: "Mir tun Frauen leid, die nicht wissen, wie beruhigend ein Nachmittag ist, an dem man im Haus herumpusselt und sein eigenes Kind genießt. Es gibt keine andere Gemeinschaft, die uns so viel Hoffnung und Lebensfreude schenkt wie die Familie."[69]

Die Frau darf sich nicht länger am Mann orientieren, fordert auch Barbara Sichtermann, eine Berliner Feministin. Denn auch das Modell der klassischen Emanzipationspolitik, so wird heute vielen klar, ist immer nur der Mann gewesen. Doch gleiche Rechte für beide Geschlechter sind ebenso unabdingbar wie ungenügend. "Die Position des Mannes in der Gesellschaft kann ... nur in Grenzen Modell sein für die des weiblichen Geschlechts, erstens weil die Männerwelt, so wie sie funktioniert oder nicht funktioniert, Wünsche offenläßt, zweitens weil die emanzipierten und gleichgestellten Frauen keine Quasi-Männer sind und sein wollen."[70]

Interessanterweise hebt Sichtermann die Bereitschaft, für andere dazusein, als eine Eigenart der Frau hervor. Es handle sich um "eine klassisch weibliche Tugend", sagt sie, deren Übertreibung natürlich vermieden werden muß, "deren Kern jedoch bewahrt gehört und ausgesät, damit diese Stärke auch da blühe, wo nicht nur Frauen wirtschaften."[71]

Sichtermann fordert, daß das "Sorgen für andere", auch und gerade wenn es unentgeltlich geschieht, wieder in seinem vollen Wert erfaßt werde: "Unsere Zivilisation hat es bekanntlich fertiggebracht, ein ethisches Klima zu erzeugen, in dem jeder, der etwas umsonst tut, als Trottel gilt. Es wäre trotzdem wohl falsch anzunehmen, daß der Respekt vor dem Opfer gänzlich ausgestorben ist. Er hat nur keine Sprache mehr...Das Ganze ist ein kulturelles und sozialpsychologisches Problem, das nur da gelöst werden kann, wo es entsteht: nicht auf dem Arbeitsmarkt und nicht in der Sphäre staatlichen Transfers, sondern in Bereichen sozialen Verhaltens, die sich der Marktlogik ebenso entziehen wie der Staatsraison."[72]

Einer dieser Bereiche, in dem das Dasein für andere, das Sorgen für die unmittelbaren Bedürfnisse in besonderer Weise zur Geltung kommt, ist sicherlich die Hausarbeit. Sichtermann betont nicht deren "einengende", "unterdrückende", "krankmachende" Wirkung, sondern faßt sie als Alternative zum geregelt-anstrengenden Berufsleben: Hier ist ein Raum zur freien Selbstgestaltung, hebt sie mit den traditionellen Verfechtern der Familie hervor; hier kann man einfach Mensch sein.[73] Schließlich sehnt sich jeder Mensch nach einem "nicht-ökonomisierten persönlichen Leben"[74], nach privater Geborgenheit. Dieser Wunsch kann zwar zeitweilig unterdrückt, aber nie abgetötet werden. Inzwischen haben die Frauen ohnehin genügend Erfahrungen außer Haus gemacht, um sich nüchtern eingestehen zu können, daß Berufsarbeit allein das Glück nicht bringt. "Hausfrauen...tun recht daran, wenn sie sich weigern, in die Fabrik zu gehen; zwar zahlen sie mit der Abhängigkeit vom Mann, aber ist die schlimmer als die Abhängigkeit vom Boß?"[75]

Es kann schon sein - sagt Sichtermann provozierend -, daß Frauen vom Lohn ihrer Männer abhängen. Andererseits jedoch sind Männer in einem viel tieferen Sinne abhängig von ihren Frauen, eben weil jeder Mensch ein Zuhause braucht, das zu schaffen jahrhundertelang als Aufgabe der Frau angesehen worden ist.[76] Dieses Zuhause zu schützen, müsse von feministischer Politik ebenso ernst genommen werden wie das "gleichermaßen starke Bedürfnis (beider Geschlechter)"[77] nach beruflicher Anerkennung.

So weit die Emanzipationsdebatten. Nicht nur "neue Mütterlichkeit", auch ein gemütliches Familienleben, Halt und Geborgenheit sind gefragt - zwar nicht überall, aber doch in weiten Kreisen. Nun ist uns wohl allen klar, daß diese von der Frauenbefreiung ersehnte und gerühmte Familie kaum etwas mit der Tradition und noch viel weniger mit dem Christentum zu tun hat. Sie wird öfter als "Patchwork-", als "Flicken-Familie" bezeichnet: Das Bild von der aus verschiedensten Stoffstücken genähten Bettüberdecke kennzeichnet wohl am treffendsten diese neuen Lebensgemeinschaften, in denen Eltern und Kinder aus früher bestehenden Familien und auch andere Menschen zusammenkommen. Wenn es "nicht mehr klappt", geht man wieder auseinander, nimmt evtl. einen Teil der Kinder mit und versucht mit einem neuen Partner ein neues "Patchwork". Die Flicken lassen sich beliebig trennen und in einem anderen Muster wieder zusammensetzen.

Ich versuche hier, objektiv von etwas zu sprechen, das mit sehr viel menschlichem Leid verbunden ist und daher eine oberflächliche Behandlung einfach nicht verträgt. Jeder von uns kennt zahlreiche solcher soeben beschriebener Lebensschicksale. Jeder weiß, wieviel (unausgesprochene) Not, wieviele seelische Verwundungen sich oft dahinter verbergen. Wer kann schon den Vater oder die Mutter seiner Kinder nach Jahren des Zusammenlebens verlassen, ohne einen Bruch im Lebensweg, ohne ein Scheitern, ohne Zweifel und vielleicht auch Gewissensbisse zu erfahren? Daß besonders die Kinder die Leidtragenden sind, ist inzwischen hinreichend bekannt. Man muß sich nur vorstellen, in welchen gefühlsmäßigen Konflikten sie ständig sind, wenn sie zwischen ihren "natürlichen" und "erwählten" Eltern zu entscheiden haben. Kürzlich erzählte mir eine Bekannte: "Mein Sohn lebt nun bereits mit seiner dritten Frau zusammen; bisher haben alle Beziehungen nur einige Jahre gedauert. Von seiner ersten Frau hat er eine kleine Tochter. Die zweite Frau brachte zwei Kinder mit in die Ehe, für die er wie ein Vater sorgte. Ich hatte manchmal sogar das Gefühl, daß er sie lieber hatte als seine eigene Tochter. Meine beiden Stiefenkel und ich waren sehr traurig, als ihre Mutter und mein Sohn sich trennten. Er hat inzwischen ein Baby von seiner jetzigen Freundin; sie wollen bald heiraten. Das bedeutet, daß ich bald drei Schwiegertöchter habe und nur einen Sohn!"

Es geht nicht darum, hier zu urteilen. Dazu hat niemand ein Recht. Als Außenstehender kann man außerdem sehr hart und hochmütig sein. Wir wollen uns nur nach dem Grund für den Wertewandel fragen, der sich in den letzten Jahrzehnten mit rasanter Geschwindigkeit in unserer Gesellschaft vollzogen hat. Könnte man nicht tatsächlich sagen, daß besonders der Radikalfeminismus entschieden dazu beigetragen hat, die traditionelle, bürgerliche Familie zu zerstören? Diese Behauptung würde ich bejahen. Der Radikalfeminismus hat dieses sein erklärtes Ziel in weiten Kreisen erreicht, indem er einerseits den Klassenkampf auf die Beziehungen zwischen Mann und Frau übertrug, und indem er andererseits einen neuen, sog. "offenen" Familienbegriff schuf und den "alten" als lächerlich abstempelte. In einem Gesetz von Finnland wird die Familie definiert "als eine Gruppe von Personen, die sich aus demselben Kühlschrank bedienen."[78] Die Verachtung gegenüber allen alten Formen wird in einem Plädoyer von Christiane Collange sehr deutlich: "Und die Familie?" fragt die französische Feministin. "Die schöne, vereinte Familie, ohne Scheidungen und Trennungen, mit der man uns ständig in den Ohren liegt, damit wir uns unseres zusammenhanglosen Lebens schämen? Wieviel Frustration und Scheitern versteckte sich unter dem anständigen Äußeren? Wieviel Lüge und Verrat wurden im Namen der Unauflöslichkeit der Ehe geübt? Ich trauere der Zeit der strengen, aber gerechten Väter wahrlich nicht nach, auch nicht jener der heiligen Frauen mit dem traurigen Blick. Ich mag unsere Väter lieber, die nicht so sehr Glucke sind, wie man glaubt, aber auch nicht so sehr Gockel wie damals; und ich mag auch unsere Super-Mütter, die zwar immer ein wenig gestreßt sind, sich in ihrer Haut aber wohl fühlen. Ich mag lieber die Jeans vom Ausgang des Jahrhunderts als die Spitzenkragen seines Beginns."[79] (Ich übrigens auch, und viele von Ihnen wohl ebenfalls!)

Es wird deutlich, daß es nicht darum gehen kann, zur sogenannten bürgerlichen Familie zurückzukehren. Das wäre zu wenig und der Unruhe unserer Zeit sicher nicht angemessen. Es kann nicht unser Ziel sein, ein gutbürgerliches Ehe- und Familienideal aufzupolieren. Mit Spießigkeit sollten wir den aktuellen Herausforderungen wirklich nicht begegnen. Wir müssen vielmehr zeigen, daß es wesentlich attraktiver ist, wenn Mann und Frau sich lieben und füreinander dasind - als wenn sie sich bekämpfen und einer über den anderen zu triumphieren strebt. Und wir müssen obendrein bezeugen, daß die Ehe als unauflösliche Lebensgemeinschaft der beste Garant für das Glück einer Familie ist. Ich denke, daß hier die Christen besonders gefragt sind. Nicht weil sie besser seien als andere Menschen, sondern weil sie in ihrem Glauben allen Halt und alle Hilfe finden, die man braucht, um die Bedrängnisse unserer Zeit zu bestehen.

Im folgenden möchte ich skizzenhaft umreißen, welche Antworten ein christlich orientierter Feminismus auf die geschilderten Situationen finden könnte.

4. Ausblick: Christlicher Feminismus

Zunächst eine Vorbemerkung: Jedem Christen - ob Mann oder Frau - wird heute noch viel klarer sein als in früheren Zeiten, daß man seinen Glauben nicht in Anlehnung an all das leben kann, was uns umgibt, was uns beansprucht und umwirbt. In dem Spannungsfeld von Werten, Scheinwerten und Gegenwerten, in dem wir leben, ist es leicht, die Orientierung zu verlieren. Wir brauchen daher eine reflexive Distanz, um eine tiefere Dimension des Lebens aufzudecken, und wir brauchen den Mut, dem Zeitgeist zu widersprechen. Christen sind zu allen Zeiten Widerstandskämpfer gewesen, die auch dann nicht aufgaben, wenn sie sich vorübergehend einmal auf scheinbar verlorenem Posten befanden. Doch trotz aller anderslautender Meldungen ist die christliche Botschaft auch heute das, was dem Menschen wirkliche Befreiung bringt.

Ich denke, gerade wenn man christlich motiviert ist, kann man sich für eine sinnvolle Förderung der Frauen einsetzen. Denn "Emanzipation" im Sinne von Freiheit, Selbständigkeit und geistiger Reife wird gerade im Glauben an Christus erreicht. Christus bringt Befreiung von Vorurteilen und Klischees, von hemmenden Traditionen und zu eng gewordenen Lebensformen. Vor allem aber befreit er von Sünde und Schuld, die im Grunde viel mehr an uns nagen und uns viel tiefer zerstören können als äußere Begebenheiten. Alle Lasten, die uns innerlich quälen und bedrängen, die uns zermürben und mutlos machen, dürfen wir im Sakrament der Buße einfach von uns werfen. Hier erfahren wir, daß wir auch in unserer Schwachheit, mit allen persönlichen Grenzen und Fehlern angenommen und geliebt werden. Hier bekommen wir immer wieder Kraft zu einem Neuanfang und die Gnade, uns den Schwierigkeiten kühn zu stellen.

4.1. Selbstannahme

Ein Mensch, der sich von seinem Vater Gott vorbehaltlos angenommen weiß, kann sich auch selbst annehmen. Vielleicht ist die mangelnde Selbstannahme das Grundproblem des Feminismus - übrigens auch in seiner Spielart der "neuen Mütterlichkeit". Denn wenn ich mich selbst annehme, dann muß ich auch akzeptieren, daß ich Grenzen und Schwächen habe und Fehler begehe - und nicht alles Heil der Welt von mir kommen kann. Was die Gleichheitsideologie betrifft, so ist die Sache noch eindeutiger. Das So-Sein-Wollen-wie-der-Mann führt bei zahlreichen Frauen zum Krampf und zu Frustrationen, bisweilen sogar in die psychische Krankheit hinein. Denn offensichtlich kann nur derjenige ein ausgeglichener Mensch sein, der im Frieden mit dem eigenen Körper lebt.

Für Christen ist es normalerweise nicht schwer, sich auch in ihrer Leiblichkeit zu bejahen, denn für sie gibt es keinen Zufall und kein blindes Schicksal, sondern nur weise (wenn auch nicht immer faßbare) Fügung des guten Gottes. Dieser hat am Tag der Schöpfung seinen Willen zum Mann und zur Frau bekundet. Er hat die menschliche Natur (in beiden Ausprägungen) auf wunderbare Weise entworfen und beiden Geschlechtern eine Fülle von Vorzügen gegeben. Wer dies annimmt, kann gelassen sein, und er begreift, daß eine Rebellion gegen die eigene Natur eine Rebellion gegen den Schöpfer ist.

Es kann bei der "Selbstbefreiung" der Frau nicht um ein billiges Angleichen an den Mann gehen. Etwas viel Teureres, Lohnenderes, aber auch Schwierigeres muß angestrebt werden: die Selbstannahme der Frau in ihrem Anderssein, in ihrem Einmaligsein als Frau. "Ziel der Emanzipation ist es, sich der Manipulation zu entziehen, nicht Produkt zu werden, sondern Original zu sein", erläutert Franz Kamphaus. Und er fährt fort: "Es hilft wenig, Emanzipation nach dem Vorbild der Bekannten X, dem Magazin Y, dem Denver-Biest zu spielen; oder sich eine Second-hand-Identität aus feministischen Büchern anzulesen, ohne Bereitschaft zur eigenen Auseinandersetzung; oder die eigene Schwäche als Unterdrückung auszulegen. Gerade im Widerstand gegen solche Trends bewährt sich die eigene Freiheit."[80] Wahre Förderung der Frau befreit nicht "von" den Eigenarten, sondern "zu ihnen hin".

Was nun bedeutet es, "Mann" oder "Frau" zu sein? Worin unterscheiden sich die Geschlechter? Zu dieser Frage ist im Laufe der Menschheitsgeschichte tatsächlich nicht nur Kluges und Aufbauendes gesagt worden. Gegenwärtig ist es üblich, den Mann durch oberflächliche Pauschalurteile zu verspotten; andere Male (wohl sehr viel öfter) ist die Frau in Klischees eingeengt, in Theorie und Praxis gedemütigt worden. Doch jedes Geschlecht hat die ihm eigenen Vorzüge; jedes ist dem anderen auch in seinem Bereich überlegen. Mann und Frau unterscheiden sich natürlich nicht nach dem Rang ihrer intellektuellen oder moralischen Qualitäten, wohl aber in einer weitaus grundsätzlicheren, mehr "ontologischen" Hinsicht: nämlich in der Möglichkeit, Vater oder Mutter zu sein, und in den sich daraus ergebenden spezifischen Fähigkeiten. Eigentlich ist es erstaunlich, daß diese an sich doch so selbstverständliche Tatsache so viel Verwirrung gestiftet hat.

4.2. Mutterschaft als Geschenk

Als Mutter ist die Frau berufen, "Ort" eines göttlichen Schöpfungsaktes zu sein. Denn die Eltern wirken auf unbegreifliche Weise mit Gott zusammen, wenn ein neuer Mensch entsteht. Dieser wird noch vor dem Mann der Frau anvertraut, damit sie ihn (zunächst in sich) aufnehme, berge und ernähre. Zwar ist die Schwangerschaft nicht selten von Anstrengung und Erschöpfung gekennzeichnet - doch bedeutet es nicht eine besondere Auszeichnung für die Frau, Gottes schöpferische Liebe bis in die eigene Leiblichkeit hinein spüren zu dürfen? Daß die Frau als Mutter herabgesetzt oder benachteiligt sei, kann wohl nur aus einer sehr oberflächlichen Perspektive heraus behauptet werden, die den Sinn für das Wesentliche verloren hat. Aus christlicher Sicht gilt im Gegenteil, daß der Frau in ihrer Mutterschaft ein ganz besonderer "Vorrang vor dem Mann" zukommt, wie Papst Johannes Paul II. feinfühlig formuliert.[81]

Damit soll die Mutter keineswegs "ans Haus gefesselt", zu "Sklavenarbeiten verurteilt" werden, auch wenn dies aus feministischen Kreisen längst als bewiesen erscheint. Zwar erfahren nicht wenige Frauen die Geburt eines Kindes als Belastung, was teils an dem Unverständnis der Mitmenschen, teils auch an ungerechten Sozialstrukturen liegen mag. Doch das sind Folgen der Sünde, nicht notwendige Begleitumstände der Mutterschaft. Ihretwegen darf also nicht einem neuen Menschen das Leben verweigert, sie selbst müssen abgeschafft werden! Dies stellt in allen Gesellschaften gerade für Christen eine der dringendsten Herausforderungen dar.

Wenn eine Frau einwilligt, Mutter zu sein, dann kann sie die Nachfolge Christi in einer wahrscheinlich nicht spektakulären, wohl aber umso innigeren Weise verwirklichen. Sie kann von der "Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes"[82] Zeugnis geben, ein Zuhause schaffen, Geborgenheit schenken, kulturelle und religiöse Werte vermitteln. Dabei wird sie erfahren, daß Christus nur am Kreuz zu finden ist. Doch sie wird auch erkennen, daß sie von ihrem Platz aus gerufen ist, an der Ausbreitung des Reiches Gottes aktiv mitzuarbeiten. So ist es gar nicht wünschenswert, daß sie in den eigenen vier Wänden "eingesperrt" lebt. Je nach persönlicher Belastbarkeit und familiärer Situation kann sie es sogar als ihre Pflicht betrachten, auch andere Formen des (beruflichen, ehrenamtlichen oder persönlichen) Engagements in der Gesellschaft zu suchen und ihr Haus für viele Menschen zu öffnen. Daß das Wohl der Familie stets das erste Anliegen guter Eltern bleiben wird, steht dabei außer Debatte.

Doch die Mutterschaft ist nicht auf den physischen Bereich zu reduzieren. In seelisch-geistiger Hinsicht sind alle Frauen berufen, auf irgendeine Weise "Mutter" zu sein. Was heißt das denn anderes, als die Anonymität zu durchbrechen, den Mitmenschen ein offenes Ohr zu schenken, ihre Anliegen mitzutragen - und sie für die Gnade Gottes empfänglich zu machen? Christliche Denker haben immer wieder auf die "geistige Mutterschaft" hingewiesen, die allerdings kaum etwas mit dem "Sanften", "Behutsamen" und "Zarten" zu tun hat, das in einem Teil des extremen Feminismus gepriesen wird. Die geistige Mutterschaft setzt sich klar von jener biologisch-materialistischen Sicht ab. Sie bezeichnet eine besondere Liebesfähigkeit der Frau, eine besondere Begabung, in der Masse den einzelnen zu erblicken und zu fördern. Die Frau hat besonderen Sinn dafür, das konkrete Leben zur Entfaltung zu bringen.[83] Gott hat ihr, wie Johannes Paul II. es ausdrückt, "in einer besonderen Weise den Menschen anvertraut."[84] Doch nicht nur das Herz, auch der Verstand ist hier angesprochen, natürliche Veranlagung und Erziehung sind gefordert, die geistbegabte Frau ist gemeint, nicht jene Karikatur, die im Grunde nur um die eigenen leiblichen Bedürfnisse kreist.

Einer unverbildeten Frau fällt es normalerweise nicht schwer, sich den anderen zuzuwenden. Ihr Blick für das Konkrete, ihr Realitätssinn und ihr Gespür für die seelischen Bedürfnisse der anderen können ihr sehr dienlich sein. Sie hat Talente zur Solidarität und Freundschaft, auch zu einer ganz individuellen Weitergabe des Glaubens, von ihrem Schöpfer bekommen. Warum sollte sie diese verleugnen, statt sie dankbar einzusetzen und das Leben freundlicher und gottgefälliger zu gestalten? "Wenn jemand bemerkt, daß ihn an seiner Arbeitsstelle - da, wo jeder in Gefahr ist, ein Stück Maschine zu werden - Teilnahme und sogar Hilfsbereitschaft erwarten, dann wird in seinem Herzen manches lebendig erhalten oder geweckt werden können, was sonst verkümmern würde,"[85] gibt Edith Stein zu bedenken.

Hier wird deutlich, wie wohltuend ein Christ mitten in der Welt zu wirken vermag. Ist es nicht eine lohnende Aufgabe, eine Umgebung zu schaffen, in der man sich wohlfühlen kann? Die Frau hat (gerade als Christin) den überaus entscheidenden Auftrag, von der Liebe Gottes zu dem einzelnen Menschen Zeugnis zu geben. Sie ist aufgefordert, den anderen das Bewußtsein zu vermitteln, daß sie (auch von Gott) an- und ernstgenommen werden, und daß ihr Leben wertvoll ist.

4.3. Ehe als göttliche Berufung

Mit dem Licht des Glaubens erkennt man nicht nur sich selbst und die eigenen Möglichkeiten zur Mutter- oder Vaterschaft. Man sieht auch die Ehe aus einer tieferen Perspektive - und zwar so, wie Gott sie ursprünglich gemeint hat: Sie ist Gemeinschaft des Lebens und der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau. Und im Neuen Bund ist sie noch mehr: Sakrament der Gnade, göttliche Berufung - also ein konkreter Weg, die Nachfolge Christi zu leben.

Mann und Frau ergänzen sich und haben sich einander viel zu geben. Geistig und intellektuell betrachtet kann ein Mann einen anderen Mann wohl nie in dem Maß ergänzen, wie es eine Frau kann; umgekehrt gilt natürlich das gleiche. Die gegenseitige "Hilfe" aber wird letztlich nur dann wirklich fruchtbringend sein, wenn sowohl der Mann als auch die Frau mit Gott vereint sind. In dem Augenblick, als Adam und Eva gemeinsam die verbotene Frucht aßen, glaubten sie subjektiv, einander ganz besonders nah zu sein: Sie aßen ja dieselbe Frucht von demselben Baum. Tatsächlich aber gruben sie einen Abgrund zwischen sich, denn eine gemeinsam begangene Sünde stellt die vielleicht größte Kluft dar, die zwischen Menschen existieren kann. "Wenn Liebende, die miteinander sündigen, sich bewußt wären, daß sie dadurch einen echten Bruch in ihrer Liebe bewirken, dann würden sie vor ihrer Sünde erschrecken," bemerkt Alice von Hildebrand. "Wahre Liebe und wahre Gemeinschaft können nur bestehen, wenn Gott gegenwärtig ist."[86] In säkularisierten Gesellschaften ist es demnach fast "vorprogrammiert", daß es zu unfruchtbaren Spannungen zwischen den Geschlechtern kommt.

Die große Schriftstellerin Ida Friederike Görres sagte vor Jahren: "Lange schon geht mir auf, daß die Ehe gegenwärtig im Begriff ist, aus ihrem Alten Testament in ihr Neues überzugehen - d.h. aus der puren oder doch überwiegend rechtlichen, soziologischen, wirtschaftlichen, moralischen Institution in den Bereich der spirituellen Entscheidung. Vielleicht ist es darum nicht nur ein schlechtes Zeichen, daß heute ein solcher Haufen Ehen zerbricht? Vielleicht bedeutet das u.a. auch, daß sehr viele Menschen die Ehe in den heute üblichen, den korrupten Formen nicht mehr zu ertragen, nicht mehr zu leben vermögen."[87]

Christliche Paare sind nun aufgerufen, Zeugnis von der Attraktivität ehelicher Liebe und Treue zu geben. Sie sind herausgefordert, auch in Zeiten von Krisen und Unverständnis aneinander festzuhalten. Jede Ehe (auch jede christlich geschlossene) hat selbstverständlich harte Zeiten durchzustehen. Man erfährt die Banalität des Alltags, Unzufriedenheit und Unerfülltheit im Beruf; man sieht, daß Pläne sich zerschlagen, daß die Kinder ganz anders werden, als man gewünscht hat. Und mit den Jahren wächst nicht selten das Bewußtsein, einander manches schuldig geblieben zu sein.

Je mehr das klassische Frauenbild in Frage gestellt wird, desto mehr sammelt sich daheim auch Zündstoff für Konflikte. (Wer muß spülen? Wer putzen? Wer einkaufen?) So notwendig es ist, sich über die häuslichen Kompetenzen Gedanken zu machen, so sinnlos ist es auch, ständig darüber zu streiten. Ich denke, wichtiger als die konkreten Arbeiten ist für jeden Mann und für jede Frau eine positive Einstellung zur Familie, eine aufrichtige Liebe zueinander und zu den Kindern, die sich individuell auf unterschiedlichste Weise zeigt, immer aber in der Bereitschaft, auf irgendeine Art die häuslichen Sorgen gemeinsam zu tragen. Es ist eine Sackgasse, wenn man meint, Mann und Frau, Eltern und Kinder müßten sich voneinander "emanzipieren". Wünschenswert wäre es, wenn alle zusammen die Schönheit des Füreinander-Daseins wieder neu entdeckten, in freier und gegenseitiger Hinordnung aus Liebe. Dann denkt man gar nicht an die Beeinträchtigung der eigenen Rechte, und dann verlangt man nichts von den anderen, was man ihnen nicht selber gerne schenkt.

Sind Mann und Frau bereit, für ihre Ehe und Familie Opfer zu bringen, so ist ihre Liebe zur Reife gelangt. Im Einzelfall kann diese reife Liebe ganz verschiedene - sogar gegensätzliche - Situationen begründen. Für eine Frau bedeutet es zum Beispiel ein Opfer, zu Hause bei den Kindern zu bleiben; für eine andere kann es heroisch sein, Beruf und häusliche Pflichten um der Familie willen miteinander zu vereinbaren. So wenig es Patentrezepte für die individuelle Gestaltung des Familienalltags gibt, so wenig ist es auch angebracht, als Außenstehender über konkrete Situationen zu urteilen. Die Belastbarkeiten sind sehr verschieden. Was für eine Frau (oder einen Mann) eine Unterforderung ist, bedeutet für andere eine Überforderung. Auch die Bedürfnisse der Kinder sind kaum vergleichbar: Ein einziges kann mehr elterliche Energien beanspruchen als mehrere andere.

Die Ehe, sagt Ida Friederike Görres, ist heute "nicht mehr zuerst Heim und Hafen", sondern sie wird, wenn man sie in spiritueller Tiefe lebt und erlebt, zum mystischen Abenteuer. Denn, so fährt die bekannte Schriftstellerin fort, sie bedeutet die Übersetzung des großen christlichen Liebesgebotes 'aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüt und aus allen deinen Kräften' "ins menschliche Format".[88]

4.4. Streben nach Heiligkeit

Selbstverwirklichung, so müssen wir abschließend feststellen, ist immer auch Selbstbescheidung: auf das für jeden Menschen Mögliche und Machbare, - für einen Christen mehr noch: auf das, was er in seinen konkreten Lebensumständen als den göttlichen Willen entdeckt.

Hier berühren wir die tiefste Dimension der Selbstentfaltung. Wenn Mann und Frau fähig werden, den Widerstand gegen die Hingabe zu überwinden, der sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht, wenn sie bereit werden, sich der Liebe Gottes neu zu überlassen, dann werden sie wahrhaft frei. Und diese Freiheit ist die Frucht davon, daß sie von sich selbst gelöst, "erlöst" sind.

Die französische Philosophin Simone Weil (1909-1943) spürte das Unglück des modernen Menschen. Obwohl sie sich formal nie zum Glauben bekannte, urteilte sie doch nach christlichen Wertmaßstäben, als sie einmal die westlichen Gesellschaften analysierte und ein überraschendes Heilmittel nannte - persönliche Gottverbundenheit: "Es ist jene Heiligkeit vonnöten, die das Heute braucht, eine neue Heiligkeit, eine, wie es noch keine gab. Das ist, heute wenigstens, eine erlaubte Bitte, weil es eine notwendige Bitte ist. Ich glaube, das ist...die erste Bitte, die man jetzt aussprechen muß, an jedem Tag, zu jeder Stunde aussprechen muß, wie ein hungriges Kind immer wieder um Brot bettelt. Die Welt braucht Heilige mit Genie, wie eine Stadt, in der die Pest wütet, Ärzte braucht. Wo die Not ist, da ist auch die Pflicht."[89]

Verheißungen und Forderungen des Christentums betreffen beide Geschlechter gleichermaßen. Doch, ließe sich fragen, was könnte es für die heutige Frau konkret bedeuten, aus dem Glauben zu leben? Vor allem wohl, daß sie in einem tiefen Gebetsleben ihre Stütze findet für alle An- und nur zu oft auch Überforderungen von Familie und Beruf. Und dann vielleicht, daß sie den Sinn des Opfers, der nicht anerkannten Mühen, der stillen, scheinbar so glanzlosen Arbeiten wieder entdeckt und auch dem Mann neu zu erschließen weiß - nicht als "Ideologie" verflossener Zeiten, sondern als eine Forderung lebendigen Christseins, die für beide Geschlechter auch heute, bei den veränderten Lebenserfahrungen des modernen Menschen, gültig ist. Bei allen Streiks und Forderungen, Demonstrationen und Diskussionen vergessen die Christen allzu leicht, daß Christus nicht im Kampf gegen das Kreuz, sondern daß er am Kreuz siegte, daß er überhaupt erst jenseits des Todes und des Grabes triumphierte. Das heißt nicht, daß man sich nicht für Frieden und Gerechtigkeit entschieden engagieren soll, wohl aber, daß das Leben auch im unüberwindbaren Leid nicht aufhört, sinnvoll zu sein. Wer glaubt, schöpft immer neue Hoffnung, denn "wer kann den überwinden, dessen Sieg die Niederlage voraussetzt?"[90]

Gestatten Sie mir ein Schlußwort: Letztlich ist die Frage nach dem Leitbild der Frau sicher nicht mit abstrakten Begriffsbestimmungen zu lösen. Es genügt ein liebender und lernwilliger Blick auf die "Frau" der Hl.Schrift, auf Maria. Wenn das Leben zeigt, bis zu welchen Abgründen des Lasters und der Verworfenheit die Frau manchmal herabsteigen kann, zeigt Maria, bis wohin sie in Christus und durch ihn emporzusteigen vermag. Die Mutter Christi war bei all ihrer Auserwähltheit doch ein Mensch, der kämpfen und leiden mußte wie wir; sie hat Armut und Schmerz, Mißachtung und Verbannung selbst durchgestanden.

Wenn wir von Maria lernen, den Glauben auch heute in seiner ganzen Dimension zu leben, könnte unsere Gesellschaft sich sehr verändern. Viele Probleme würden leichter gelöst, andere miteinander getragen. Wie die Sünde das Band zwischen den Geschlechtern zerschnitten hat, so vermag die Gnade, eine neue Harmonie zwischen ihnen zu schaffen. Ihre Beziehung wird daher umso schöner sein, je größer ihre Gottesnähe ist. Als Christen wollen Mann und Frau nicht unabhängig, aber selbständig sein; sie können sich gegenseitig anerkennen und Freude aneinander haben. Und schließlich vermögen beide gleichberechtigt zusammenzuleben, in gemeinsamer Verantwortung für die Zukunft unserer Welt.

Je christlicher diese Welt ist, desto menschlicher wird sie auch sein, und desto mehr wird man in ihr auf die Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen achten.


Jutta Burggraf


[1] Vgl. Die Braut II. Zur Rolle der Frau im Kulturvergleich, hrsg. von Gisela Völger und Karin v. Welck, Köln 1985, S.536-545.
[2] Vgl. Die Braut I. Zur Rolle der Frau im Kulturvergleich, hrsg. von Gisela Völger und Karin v. Welck, Köln 1985, S.224-231.
[3] Vgl. Ennen, E.: Frauen im Mittelalter, 4.Aufl. München 1991.
[4] Vgl.Bieber,K.: Simone de Beauvoir, Boston 1979, S.80.
[5] Vgl. Wagner, C.: Simone de Beauvoirs Weg zum Feminismus, Rheinfelden 1984, S.1 und 89.
[6] Beauvoir, S.d.: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1951, S. 21.
[7] Beauvoir 1951, S. 49.
[8] Sartre, J-P.: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Zürich 1947, S. 14.
[9] Sartre, 1947, S. 14: "Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht."
[10] Bekenntnis zum Atheismus, vgl. Beauvoir, S.d.: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre August-September 1974, Reinbek 1983, S. 565 ff.
[11] Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Zehl Romero, C.: Simone de Beauvoir in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1978, S. 120-127.
[12] Beauvoir 1951, S. 49.
[13] Beauvoir 1951 , S. 21.
[14] Vgl. Beauvoir 1951, S. 73.
[15] Vgl. Beauvoir 1951, S. 75.
[16] Beauvoir 1951, S. 684.
17 Beauvoir 1951, S.455.
[18] Beauvoir 1951, S. 71.
[19] Beauvoir 1951, S. 719.
[20] Beauvoir 1951, S. 165f.
[21] Vgl. Beauvoir 1951, S. 258.
[22] Beauvoir 1951, S. 285.
[23] Beauvoir, S.d.: Alles in allem, Reinbek 1974, S. 455.
[24] Beauvoir 1951, S. 722.
[25] Beauvoir 1951, S. 724.
[26] Vgl. Beauvoir, S.d.: Über den Kampf für die Befreiung der Frau, Interview von Alice Schwarzer, Kursbuch 35 (1974), S.62.
[27] Beauvoir 1951, S. 461.
[28] Vgl. Beauvoir 1951, S.721.
[29] Vgl. Beauvoir 1951, S. 715.
[30] Beauvoir 1951, S. 718.
[31] Beauvoir 1951, S. 715.
[32] Vgl.Beauvoir 1951, S. 502 und 717.
[33] Eine zusammenfassende Darstellung dieser Ethik, auch "neue Moral" genannt, findet sich bei Lüthi, K.: Gottes neue Eva, Stuttgart-Berlin, 1978, S. 67-126. Vgl. dazu auch die Feministin Elisabeth Badinter: "Aus dem Widerspruch zwischen den weiblichen Wünschen und den herrschenden Wertvorstellungen können nur neue Verhaltensweisen hervorgehen, die die Gesellschaft vielleicht stärker umwälzen werden als jeder zu erwartende wirtschaftliche Wandel." Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, München 1981, S. 267.
[34] Vgl. z.B: Beauvoir 1951, S. 209; Ehe ist für Beauvoir "Zwang" (S. 500), "Fessel" (Vgl. S. 697), sie fordert ihren Ersatz durch freie Lebensformen (Vgl. S. 721).
[35] Vgl. z.B. Beauvoir 1951.S. 689: "Und sie mag noch so vorsichtig sein, so ist sie doch niemals völlig sicher vor dem drohenden Kind."
[36] Vgl. z.B. Beauvoir 1951, S. 504: "Es gibt nichts Absurderes als die Gründe, die gegen die Legalisierung der Abtreibung herangezogen werden." Auch S. 697; Beauvoir 1974, S. 450.
[37] Vgl. z.B. Beauvoir 1951, S. 70.
[38] Beauvoir 1951, S. 70.
[39] Beauvoir, S.d. Interview von Alice Schwarzer, in: Der Spiegel 15 (1976), S. 195; vgl. auch Beauvoir 1974, S. 463
[40] Beauvoir 1974, S. 463.
[41] Vgl. Beauvoir 1951, S. 697.
[42] Vgl.Beauvoir 1951, S. 409 ff.
[43] Vgl. Beauvoir, S:d.: Ein sanfter Tod, Hamburg 1965, S. 63 f.; Das Alter, Reinbek 1972, S. 383; Alles in allem, Reinbek 1974, S. 105.
[44] Noch Jahre später besteht Simone de Beauvoir darauf, daß die Befreiung der Frau mit der ökonomischen Emanzipation beginne. Vgl. Simone de Beauvoir: Über den Kampf für die Befreiung der Frau, Interview von Alice Schwarzer, Kursbuch 35 (1974), S. 65-66.
[45] Beauvoir 1951, S. 679 und 1974, S. 462. Während Beauvoir zunächst in der Nachahmung des Mannes das Heil der Frau erblickt (Vgl. Beauvoir 1951, S. 716), werden die männlichen Werte später immer kritischer von ihr betrachtet und schließlich zurückgewiesen. Gegen Ende ihres Lebens spricht sie sogar von "weiblicher" Identität, "obwohl inhaltlich nicht klar wird, wie ... (diese) aussehen soll." Wagner 1984, S.202; Beauvoirs Emanzipationskonzept scheint eine Entwicklung in Richtung Androgynität aufzuweisen: vgl. Interview mit Simone de Beauvoir, in: Wagner 1984, S. 214: "mais le but n'est pas de ressembler aux hommes tels qu'ils sont, c'est plutot de creer un monde où hommes et femmes seraient fraternels et en partagant les qualités des deux sexes."
[46] Friedan, B.: The Feminin Mystique, 1963; deutsch Der Weiblichkeitswahn, Hamburg 1966.
[47] Friedan 1966, S.33.
[48] Friedan 1966. S.52.
[49] Millett, K.: Sexual Politics, 1969; deutsch Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft, München 1971.
[50] Vgl. Firestone, S.: The Dialectic Sex, 1970; deutsch Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Frankfurt a.M. 1976, S.41.
[51] Firestone 1976, S.191.
[52] ebd., S.191.
[53] Vgl. Schwarzer,A.: Frauen gegen den § 218, 2.Aufl., Frankfurt a.M.1971.
[54] Schwarzer,A.: Der kleine Unterschied und seine großen Folgen, Frankfurt a.M. 1975.
[55] Vgl. Schwarzer,A.(Hrsg.): Simone de Beauvoir heute, Reinbek, 1983, S.9; 14; 96.
[56] Vgl. Schwarzer 1975, S.206 f.
[57] ebd., S.208 f.
[58] ebd., S.200.
[59] Vgl. Emma, Sept.1978.
[60] Schwarzer,A. (Hrsg.): Frauenarbeit-Frauenbefreiung, Frankfurt a.M. 1973, S.27.
[61] Vgl. Daly, M.: Gyn/Ecology, deutsch Gyn/Ökologie, München 1982.
[62] Vgl. Massow, M.: Nach dem Feminismus, Düsseldorf 1991, S.154.
[63] Vgl. hierzu Garaudy, R.: Der letzte Ausweg. Feminisierung der Gesellschaft.
[64] Sichtermann, B.: Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten, Berlin 1983, S.27, vgl. auch S.32.
[65] Daß in der Einstellung zur Mutterschaft die feministislche Bewegung gespalten ist, zeigt sich auch in einem Gespräch Simone de Beauvoirs mit Betty Friedan. Letztere sagt: "Now, here I think we do disagree. I think that maternity is more than a myth, although there has been a kind of false sanctity attached to it." Sex, Society and the Female Dilemma. A Dialog between Simone de Beauvoir and Betty Friedan, in: Saturday Review (14.6.1975), S.20, zitiert bei Cornelia Wagner, S. 211.
[66] Vgl Caldecott, L. und Leland, S. (Hrsg.): Reclaim the Earth, London 1983, S.1
[67] Vgl. z.B. Segal, L.: Ist die Zukunft weiblich? Frankfurt a.M. 1989.
[68] Vilar, E.: Das Ende der Dressur, München 1977, S. 194.
[69] Ch. Collange, zitiert bei E. Motschmann: Offen gefragt, offen geantwortet, Berlin 1988, S.70.
[70] Sichtermann, B.: FrauenArbeit. Über wechselnde Tätigkeiten und die Ökonomie der Emanzipation, Berlin 1987, S.50.
[71] Sichtermann (FrauenArbeit) 1987a, S.9
[72] Sichtermann (FrauenArbeit) 1987a, S.57 f.
[73] Vgl. Sichtermann (FrauenArbeit) 1987a, S.22
[74] Sichtermann (FrauenArbeit) 1987a, S.54
[75] Sichtermann (FrauenArbeit) 1987a, S.13
[76] Vgl. Sichtermann (FrauenArbeit) 1987a, S.57
[77] Sichtermann (FrauenArbeit) 1987a, S.54
[78] Vgl. Geinoz, F.: Wenn die Bevölkerungsfrage Familienwerte erstickt, in: Familie und Erziehung 16 (1994) Nr.3, S.4.
[79] Collange, Ch.: Die Wunschfamilie, Düsseldorf-Wien-New York-Moskau 1993, S.226.
[80] Kamphaus, Franz: Mutter Kirche und ihre Töchter, Freiburg-Basel-Wien 1989, S. 32.
[81] Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem, 15.August 1985, Nr.19.
[82] Tit 3,4.
[83] Vgl. hierzu auch J. Angst und C. Ernst: Geschlechtsunterschiede in der Psychiatrie, in: Weibliche Identität im Wandel. Vorträge im Wintersemester 1989/90, Heidelberg 1990, S.69-84
[84] Ebd., Nr. 30.
[85] Vgl. Stein, E.: Die Frau. Ihre Aufgabe nach Natur und Gnade, Freiburg 1959, S. 8.
[86] Jourdain von Hildebrand, A.: Feminismus und Feminität, Manuskript eines Vortrags, o.J., S.8.
[87] Görres 1960, 15.
[88] Görres 1960, 413 f.
[89] zitiert bei Siegmund, G.: Die Stellung der Frau in der Welt von heute, a.a.O., S. 95.
[90] Le Fort, G.v.: Der Kranz der Engel, 6. Aufl. München 1953, S. 302.