18.3.07

Von der Kunst der Verzeihens


Wenn jemand uns in einem vollen Autobus auf den Fuß tritt und uns liebenswürdig um Verzeihung bittet, fällt es uns normalerweise nicht sehr schwer, dem Übeltäter zuzulächeln, auch wenn uns die Zehen schmerzen. Wir wissen, dass der andere uns nicht absichtlich wehtun wollte; er hat einfach nicht aufgepasst oder ist der Schwerkraft zum Opfer gefallen. Jedenfalls ist er für seine Tat nicht verantwortlich. Daher fehlt ein wesentlicher Grund, um im echten Sinne des Wortes verzeihen zu können. Der Akt des Verzeihens bezieht sich auf ein Übel, das ein anderer uns (mehr oder weniger) absichtlich zugefügt hat.[1]

EINE VORBEMERKUNG

Wenn wir vom wirklichen Verzeihen sprechen, bewegen wir uns auf einer sehr tiefen Ebene. Wir betrachten keinen Fuß, auf den jemand aus Leichtsinn getreten hat, sondern eine Wunde im menschlichen Herzen.

Wir alle erleiden ab und zu Ungerechtigkeiten und Demütigungen; einige müssen täglich Qualen ertragen, nicht nur, wenn sie unschuldig im Gefängnis sind, sondern auch am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld. Keiner kann uns so verletzen wie diejenigen, die wir lieben. „Der einzige Schmerz, der mehr zerstört als der Stahl, ist die Feindseligkeit, die von unseren Nächsten stammt“, sagen die Araber.

Wie reagieren wir auf einen Schmerz, den uns jemand mit Absicht zugefügt hat? Es gibt mehrere Möglichkeiten: Wir können zurückschlagen oder schlecht über diejenigen sprechen, die über uns schlecht gesprochen haben. Aber dieses Verhalten ist wie ein Bumerang: Es prallt auf uns selbst zurück, und wir sind die ersten, die dadurch verletzt werden. Es ist schade, wenn wir unsere Energien im Ärger, im Argwohn, in der Rachsucht oder Verzweiflung verschwenden; und vielleicht ist es noch trauriger, wenn jemand sich innerlich abschirmt und verhärtet, um nicht noch mehr leiden zu müssen. Nur im Verzeihen keimt neues Leben auf.

Das Verzeihen besteht darin, auf die Rache zu verzichten und trotz allem das Beste für den anderen zu wünschen. Die christliche Tradition zeigt uns eindrucksvolle Lebenszeugnisse dieser Haltung. Wir kennen nicht nur das Beispiel des heiligen Stefan, des ersten Märtyrers, der für diejenigen betete, die ihn steinigten. Auch heute geschehen diese Wunder der Gnade. Im Jahr 1994, zum Beispiel, wurde ein Trappist namens Christian in Argelien zusammen mit einigen seiner Mitbrüder in seinem Kloster getötet, das in einer vom Krieg gefährdeten Gegend lag. Christian hinterließ einen Abschiedsbrief an seine Familie. Es ist sein „geistliches Testament“, und es wurde nach seinem Tod veröffentlicht. In diesem Testament dankt Christian allen, die ihm im Leben begegnet sind, und er sagt wörtlich: „In diesen Dank seid ihr alle eingeschlossen, ihr alle meine Freunde von gestern und von heute... Und auch dir, meinem Freund der letzten Stunde, gilt mein Dank. Ja, auch du, der du nicht wusstest, was du tatest, bist in meine Danksagung eingeschlossen. Ich sehe dich genau vor mir und sage dir ‚danke‘ und ‚bis bald‘, denn ich hoffe, dass wir uns – glücklich wie der Schächer am Kreuz – einst im Himmel wieder sehen.“[2]

Jetzt können wir denken, dass es sich hier um Grenzsituationen handelt, die einigen Helden vorbehalten sind. Wir können denken, dass es sich um Ideale handelt, die man bewundern, aber nicht nachahmen kann, und die fast nichts mit unseren persönlichen Erlebnissen zu tun haben. Kann eine Mutter jemals dem Mörder ihres Kindes verzeihen? Können wir jemandem verzeihen, der uns vor anderen vollkommen lächerlich gemacht hat, der uns die Freiheit oder die Würde genommen, uns belogen und betrogen oder etwas zerstört hat, das für uns sehr kostbar war? Dies sind einige der Lebenssituationen, in denen es angebracht ist, sich mit der Frage des Verzeihens zu beschäftigen.


I. Was bedeutet „Verzeihen“?

Was heißt „Verzeihen“? Was bedeutet es, wenn ich jemandem sage: „Ich verzeihe dir“? Es ist – um es zu wiederholen - offensichtlich, dass ich auf ein Übel reagiere, das mir jemand zugefügt hat; ich handele außerdem in Freiheit; ich vergesse nicht einfach die Ungerechtigkeit, sondern verzichte auf die Rache und wünsche trotz allem das Beste für den anderen. Im Folgenden werden wir diese verschiedenen Elemente einmal aufmerksamer betrachten.

1. Auf ein Übel reagieren

Um verzeihen zu können, muss mir ein Übel zugefügt worden sein, das heißt etwas, das negativ in mein Leben einwirkt. Wenn mir ein Chirurg einen Arm abnimmt, der gefährlich entzündet ist, kann ich heftigen Schmerz empfinden; ich kann sogar Zorn gegenüber dem Arzt verspüren. Aber ich kann ihm nichts verzeihen, weil er mir eigentlich etwas Gutes getan hat: Er hat mir das Leben gerettet. Ähnliches kann in der Erziehung vorkommen. Nicht alles, was einem Kind schlecht erscheint, ist tatsächlich schädlich für das Kind. Gute Eltern geben ihren Kindern nicht alles, worauf diese gerade Lust und Laune haben; sie formen sie in innerer Stärke. Eine Lehrerin sagte mir einmal: „Es ist mir egal, was meine Schüler heute von mir denken. Das Wichtige ist, was sie in zwanzig Jahren von mir denken.“ Das Verzeihen hat nur Sinn, wenn jemand tatsächlich durch einen anderen einen Schaden erlitten hat.

Andererseits besteht das Verzeihen keineswegs darin, diese Verletzung nicht sehen zu wollen, sie zu vertuschen oder einfach zu übergehen. Einige stören sich nicht an Beleidigungen durch ihre Arbeitskollegen oder ihren Ehepartner, weil sie sich irgendwann vorgenommen haben, jedem Konflikt auszuweichen; sie wollen Frieden um jeden Preis und machen sich vor, ständig in einer harmonischen Umgebung leben zu können. Es scheint, als ob ihnen alles gleichgültig sei. Es ist ihnen „egal“, wenn die anderen ihnen nicht die Wahrheit sagen; es ist ihnen „egal“, wenn man sie als reine Objekte benutzt, um egoistische Ziele zu erreichen; auch Betrug oder Ehebruch sind „egal“. Dieses Verhalten ist gefährlich, weil es zu einer vollständigen Wertblindheit führen kann. Die Entrüstung und auch der Zorn sind natürliche Reaktionen und sogar in bestimmten Situationen notwendig. Wer verzeiht, verschließt nicht die Augen vor dem Übel. Er leugnet nicht, dass eine (objektive) Ungerechtigkeit existiert. Würde er es leugnen, hätte er nichts zu verzeihen.

Wenn jemand daran gewöhnt ist, alles schweigend zu verdrängen, kann er vielleicht eine zeitlang einen scheinbaren Frieden genießen, wird aber schließlich einen hohen Preis für ihn zahlen, da er auf die Freiheit verzichtet, er selbst zu sein. Er versteckt und begräbt seine Frustrationen in den Tiefen seines Herzens, hinter einer dicken Wand, die er aufbaut, um sich zu schützen. Und oft ist er sich nicht einmal seiner fehlenden Authentizität bewusst. Es ist normal, dass eine Ungerechtigkeit uns schmerzt und eine Wunde hinterlässt. Wenn wir sie nicht sehen wollen, kann sie nicht geheilt werden. Dann flüchten wir ständig vor unserer eigenen „Innenwelt“ (das heißt, vor uns selbst); und der Schmerz zernagt uns langsam und unabänderlich. Einige machen eine Weltreise, andere ziehen in eine fremde Stadt. Aber niemand kann vor dem Leid flüchten. Jeder geleugnete seelische Schmerz kommt durch die Hintertür zurück, verweilt lange Zeit wie eine traumatische Erfahrung im Unbewussten und kann Ursache für dauerhafte Wunden sein. Ein versteckter Schmerz kann in bestimmten Fällen dazu führen, dass jemand schlecht gelaunt, ängstlich, nervös oder gefühllos wird; oder dass jemand nicht mehr freundschaftsfähig ist. Ohne dass man es beabsichtigt, sind früher oder später die Erinnerungen auf einmal wieder da. Und dann werden sich viele bewusst, dass es wohl besser wäre, sich der schmerzhaften Erfahrung zu stellen. Ein Leid bewusst anzunehmen und aufzuarbeiten, ist einer der Schlüssel, um den inneren Frieden zu erreichen.

2. In Freiheit handeln

Verzeihen ist ein freier Akt. Es ist die einzige Reaktion, bei der man nicht nur re-agiert - nach dem bekannten Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“[3] Der Hass provoziert Gewalt, und die Gewalt bewirkt meist neuen Hass. Wenn ich verzeihe, setze ich diesem Teufelskreis ein Ende. Ich verhindere, dass die Kettenreaktion ihren Lauf nimmt. In diesem Moment befreie ich den anderen, der dann nicht mehr in dem begonnenen Prozess verhaftet ist. Aber an erster Stelle befreie ich mich selbst, denn ich bin bereit, mich von Ärger und Groll zu lösen. Ich reagiere nicht reflexhaft, sondern setze einen neuen Anfang, auch in mir.

Es ist eine sehr wichtige Aufgabe, die Beleidigungen zu überwinden, weil der Hass und die Rache das Leben vergiften. Der Philosoph Max Scheler sagt, dass jemand, der Groll hegt, sich selbst vergiftet[4]: Der andere hat ihn verletzt; von dieser Erfahrung bewegt er sich nicht weiter; er schließt sich in seiner Erinnerung ein, ist wie besessen davon und kapselt sich von den anderen ab. So bleibt er in der Vergangenheit gefangen. Er nährt seinen Groll damit, dass er dasselbe Ereignis in sich ständig zurückruft. Auf diese Weise bleibt er immer auf demselben Fleck und ruiniert sein Leben.

Der Groll bewirkt, dass sich die Wunden in unserem Inneren ausweiten. Auf diese Weise übt er einen verheerenden Einfluss aus. Er schafft ein allgemeines Unwohlsein, eine nicht recht zu definierende generelle Unzufriedenheit. Man fühlt sich folglich nicht wohl in seiner Haut. Aber wenn man sich „bei sich selbst“ nicht wohl fühlt, dann fühlt man sich an keinem Ort wohl. Die traumatischen Erinnerungen können immer wieder Zorn und Traurigkeit entfachen, sie können uns zermürben und zu Depressionen führen. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Wer Rache sucht, muss zwei Gräber graben.“

In ihrem Buch Meine erste weiße Freundin beschreibt eine dunkelhäutige nordamerikanische Journalistin, wie die Unterdrückung, die die Afrikaner in den Vereinigten Staaten erleiden mussten, sie in ihrer Jugend zum Hass gegenüber den Weißen geführt hat, „weil sie gelyncht und gelogen, uns gefangen genommen, vergiftet und erschossen haben.“ Die Autorin gesteht, dass sie nach einiger Zeit zu der Erkenntnis gelangt sei, dass ihr Hass, so verständlich er auch war, ihre Identität und Würde zu zerstören begann. Er blendete sie zum Beispiel so sehr, dass sie die freundschaftlichen Gesten, die ein weißes Mädchen ihr in der Schule zeigte, nicht wahrnahm. Nach und nach entdeckte sie, dass sie - statt auf die Bitte der Weißen um Verzeihung zu warten -, an erster Stelle selbst um Verzeihung bitten musste für den Hass im eigenen Herzen und auch für ihre Weigerung, einen Weißen als einen Einzelmenschen zu betrachten und nicht als ein Mitglied einer Rasse von Unterdrückern. Sie entdeckte den Feind in ihrem eigenen Innern; er bestand in ihren Vorurteilen und in ihrem Groll, der sie daran hinderte, glücklich zu sein.[5]

Die nicht verheilten Wunden können unsere Freiheit in großem Maße beeinträchtigen. Sie können die Quelle für völlig unverhältnismäßige und gewalttätige Reaktionen sein, die uns selbst überraschen. Ein verletzter Mensch verletzt oft auch andere. Und wie so oft versteckt er sein Herz hinter einem Panzer und kann hart, unzugänglich und abweisend scheinen. In Wahrheit ist er oft ganz anders. Er will sich nur verteidigen. Er scheint hart zu sein, dabei ist er unsicher; er ist gequält und aufgewühlt durch schlechte Erfahrungen.

Wir müssen unsere Wunden ausfindig machen, um sie säubern und heilen zu können. Das eigene Innere in Ordnung zu bringen, kann ein Schritt sein, um das Verzeihen möglich zu machen. Jedoch ist dieser Schritt sehr schwierig, und gelegentlich schaffen wir es nicht, ihn zu vollziehen. Wir können auf die Rache verzichten, aber nicht auf den Schmerz. Hier wird deutlich, dass das Verzeihen kein Gefühl ist, auch wenn es sehr eng an emotionale Erlebnisse gebunden ist.[6] Es ist ein Willensakt, der sich nicht auf unsere psychische Befindlichkeit reduzieren lässt. Man kann sogar weinend verzeihen.

Wenn ich den Vergebungsakt frei vollzogen habe, verliert das Leid gewöhnlich seine Bitterkeit, und es kann vorkommen, dass es mit der Zeit verschwindet. „Die Wunden verwandeln sich in Perlen“, sagt die heilige Hildegard von Bingen.

3. Sich an das Vergangene erinnern

Es ist ein natürliches Gesetz, dass die Zeit Wunden heilt. Sie schließt sie nicht wirklich, aber sie lässt sie vergessen. Einige sprechen von dem „Verfallsdatum unserer Emotionen“.[7] Einmal wird der Moment kommen, in dem ein Mensch nicht mehr weinen kann und sich auch nicht mehr verletzt fühlt. Das ist aber kein Zeichen dafür, dass er seinem Angreifer verziehen hat, sondern dass er eine gewisse Lebenslust verspürt. Ein seelischer Zustand – sei er auch noch so intensiv – wandelt sich gewöhnlich mit der Zeit. Ihm folgt ein langsamer Prozess des Loslassens, denn das Leben geht weiter. Wir können nicht immer dort verbleiben – der Vergangenheit verhaftet – und den erlittenen Schmerz in uns verewigen. Wenn wir in einem Schmerz verharren, blockieren wir unsere Entwicklung.

Schlechte Erinnerungen können Frustrationen regelrecht züchten. Die Fähigkeit, sich loszulösen und zu vergessen, ist demzufolge sehr wichtig für uns, ist aber noch nicht der Akt des Verzeihens selbst. Dieser besteht nicht einfach aus „Löschen und Neubeginn.“ Er verlangt, die Ungerechtigkeit klar zu sehen. Nur die Wahrheit macht frei! Die Untat muss als solche anerkannt und wenn möglich wieder gut gemacht werden.

Es ist notwendig, „das Gedächtnis zu reinigen“. Eine gesunde Erinnerung kann sich in eine Meisterin des Lebens verwandeln. Wenn ich mit meiner Vergangenheit in Frieden lebe, kann ich viel aus meinen Erfahrungen lernen. Ich erinnere mich an die vergangenen Ungerechtigkeiten und tue etwas dafür, dass sie sich nicht wiederholen, und ich erinnere mich an sie als verziehene Ungerechtigkeiten.

4. Auf die Rache verzichten

Da das Verzeihen ein freier Akt ist, ist es auch möglich, dem anderen dieses Geschenk nicht zu machen, ihm diese Gabe zu verweigern. Der jüdische Autor Simon Wiesenthal erzählt in einem seiner Bücher von einigen ganz konkreten Erfahrungen in einem Konzentrationslager während des Zweiten Weltkrieges. Eines Tages kam zu ihm eine Krankenschwester und bat ihn, ihr zu folgen. Sie brachte ihn in ein Zimmer, in dem sich ein junger SS-Offizier befand, der im Sterben lag. Dieser Offizier erzählte dem gefangenen Juden sein Leben: Er sprach über seine Familie, seine Ausbildung und wie er dazu kam, ein Mitarbeiter Hitlers zu werden. Ihn belastete vor allem ein Verbrechen, für das er in besonderer Weise verantwortlich war. Soldaten hatten unter seiner Führung 300 Juden in ein Haus eingeschlossen und das Haus in Brand gesetzt; alle starben. „Ich weiß, dass es schrecklich ist“, sagte der Offizier. „In den langen Nächten, in denen ich auf meinen Tod warte, spüre ich das große Bedürfnis, mit einem Juden über dieses Vergehen zu sprechen und ihn aus ganzem Herzen um Verzeihung zu bitten.“ Wiesenthal schließt seinen Bericht folgendermaßen: „Plötzlich verstand ich, was los war, und ohne auch nur ein Wort zu sagen, verließ ich den Raum.“[8] Ein anderer Jude fügt hinzu: „Nein, ich habe keinem der Schuldigen verziehen und bin weder jetzt noch in Zukunft dazu bereit, auch nur einem einzigen zu verzeihen.“[9]

Verzeihen bedeutet, auf Rache und Hass zu verzichten. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die sich nie verletzt fühlen. Es ist nicht so, dass sie das Böse nicht sehen wollen und den Schmerz unterdrücken (wie wir zu Beginn bedacht haben), sondern ganz im Gegenteil: Sie nehmen die Ungerechtigkeiten objektiv wahr, mit voller Klarheit, aber sie lassen sich nicht im Geringsten von ihnen stören. „Selbst wenn die anderen uns umbringen, können sie uns keinen Schmerz zufügen“, ist einer ihrer Leitsätze.[10] Sie haben eine eiserne Herrschaft über sich selbst errungen und scheinen völlig unempfindlich zu sein. Sie fühlen sich erhaben über andere Menschen und haben in ihrem Innern eine solch große Distanz zu den anderen geschaffen, dass keiner ihr Herz berühren kann. Weil nichts sie berührt, werfen sie ihren Unterdrückern nichts vor. „Was macht es dem Mond schon aus, wenn ein Hund ihn anbellt?“ Es ist das Verhalten der Stoiker und vielleicht auch von einigen asiatischen „Gurus“. Einige von ihnen haben nicht einmal die Güte, diejenigen anzusehen, die sie ohne jede Anstrengung „lossprechen“.

Das Problem besteht in diesem Fall darin, dass es keine zwischenmenschliche Beziehung gibt. Man will nicht leiden, und deshalb verzichtet man auf die Liebe. Ein Mensch, der liebt, ist immer klein und verletzlich. Er ist den anderen nahe. Es ist menschlicher, im Laufe des Lebens viel zu lieben und zu leiden, als den anderen gegenüber auf Distanz zu gehen. Wenn jemandem das Verhalten der anderen niemals weh tut, ist das Verzeihen unnütz.

5. Den Angreifer in seiner persönlichen Würde sehen

Das Verzeihen beginnt, wenn ein Mensch, dank einer neuen Kraft, jegliche Art von Rache ablehnt. Er spricht nicht über die anderen aus seinen schmerzhaften Erfahrungen heraus; er vermeidet es, sie zu verurteilen und abzuwerten; und er ist dazu bereit, ihnen immer wieder neu mit einem offenen Herzen zu begegnen.

Das Geheimnis besteht darin, den Angreifer nicht mit seinem Tun zu identifizieren.[11] Jeder Mensch ist größer als seine Schuld. Ein beredtes Beispiel gibt uns Albert Camus, der sich in einem öffentlichen Brief an die Nazis richtet und über die begangenen Gewalttaten in Frankreich spricht: „Und trotzdem werde ich Sie weiterhin Menschen nennen... Wir bemühen uns, bei Ihnen das zu respektieren, was Sie bei den übrigen nicht respektiert haben.“[12] Jeder Mensch ist trotz all seiner Fehler ein Ebenbild Gottes.

Hier können wir an eine Anekdote denken, die von einem spanischen General des 19. Jahrhunderts erzählt wird. Als dieser auf dem Sterbebett lag, fragte ihn ein Priester, ob er seinen Feinden verzeihe. „Das ist nicht möglich“, antwortete der General, „ich habe alle hinrichten lassen.“[13]

Das Verzeihen, über das wir hier sprechen, entspringt einer bestimmten Haltung. Es bedeutet, in Frieden mit den eigenen Erinnerungen zu leben und die Achtung vor keinem menschlichen Wesen zu verlieren. Man kann auch einen Verstorbenen in seiner persönlichen Würde sehen. Niemand ist vollkommen verdorben; in jedem Menschen leuchtet ein Licht.

Wenn wir verzeihen, sagen wir zu jemandem: „Nein, du bist nicht so. Ich weiß, wer du bist. In Wirklichkeit bist du viel besser.“ Wir wollen das Bestmögliche für den anderen, seine vollständige Entwicklung, sein wahres Glück; und wir bemühen uns, dies ganz aufrichtig, aus dem tiefsten Herzen heraus, zu wollen.


II. Welche Haltungen ermöglichen uns das Verzeihen?

Nachdem wir zu klären versucht haben, worin das Verzeihen besteht, werden wir nun einige Haltungen betrachten, die es uns ermöglichen, diesen Akt zu vollziehen, welcher uns selbst und auch die anderen befreit.

1. Liebe

Verzeihen schließt ein, den anderen intensiv zu lieben. Das lateinische Verb per-donare drückt dies mit großer Deutlichkeit aus: das Präfix per verstärkt das Verb, das es begleitet: donare. Es bedeutet, reichlich zu geben, sich bis zum Äußersten hinzugeben. Der Schriftsteller Werner Bergengruen sagte einmal, dass sich die Liebe in der Treue bewährt und im Verzeihen erfüllt.

Trotzdem kann es schwer sein, den anderen zu lieben, wenn er uns sehr stark verletzt hat. Dann kann es u. U. hilfreich sein, sich zunächst in irgendeiner Weise von dem Angreifer zu distanzieren, auch wenn es nur innerlich ist. Solange das Messer in der Wunde steckt, wird sich die Wunde niemals schließen. Man muss das Messer zuerst herausziehen, Abstand zum anderen gewinnen: Nur dann können wir sein Gesicht sehen. Eine gewisse Loslösung ist eine erste Bedingung, um von ganzem Herzen verzeihen und dem anderen die notwendige Liebe schenken zu können.

Ein Mensch kann nur dann glücklich leben und sich gesund entwickeln, wenn er trotz all seiner Fehler und Mängel geliebt wird; wenn also jemand zu ihm sagt: „Wie gut, dass es dich gibt.“[14]

Es reicht nicht nur, „hier zu sein“, auf der Erde, sondern man braucht auch die Bestätigung des eigenen Wesens, um sich in der Welt wohl zu fühlen, damit es möglich ist, eine gewisse Selbstschätzung zu erlangen und fähig zu sein, sich mit anderen in Freundschaft zu vereinen. In diesem Sinne hat man gesagt, dass die Liebe das Schöpfungswerk weiterführt und vervollkommnet.[15] Einen Menschen zu lieben bedeutet, ihm seinen eigenen Wert und seine eigene Schönheit ins Bewusstsein zu rufen. Ein geliebter Mensch ist immer auch ein angenommener, ein „bestätigter“ Mensch, der dem Geliebten mit voller Wahrheit antworten kann: „Ich brauche dich, um ich selbst zu sein.“

Wenn ich dem anderen nicht verzeihe, nehme ich ihm in gewisser Weise den Raum zu leben und zu atmen. Dieser entfernt sich folglich immer mehr von seinem Ideal und seiner Selbstverwirklichung. Mit anderen Worten, ich töte ihn im geistigen Sinne. Man kann einen Menschen tatsächlich mit ungerechten und harten Worten töten, mit schlechten Gedanken oder einfach, indem man das Verzeihen verweigert. Der andere kann dann traurig werden, auch passiv und verbittert.

Wenn wir aber das Verzeihen gewähren, helfen wir dem anderen, zu seiner eigenen Identität zurückzufinden, mit einer neuen Freiheit und mit einem tieferen Glück zu leben.

2. Verständnis

Wir müssen verstehen, dass jeder Mensch mehr Liebe braucht, als er „verdient“. Jeder ist verletzbarer, als er scheint; und wir alle sind schwach und können ermüden. Verzeihen heißt, die feste Überzeugung zu haben, dass in jedem einzelnen und hinter jedem Übel ein verletzliches und zur Veränderung fähiges menschliches Wesen steckt. Es bedeutet, an die Möglichkeit der Weiterentwicklung der anderen zu glauben.

Wenn jemand nicht verzeiht, kann es sein, dass er die anderen allzu ernst nimmt, dass er zu viel von ihnen verlangt. Wir sind alle schwach und häufig fehlbar. Und oft sind wir uns nicht der Konsequenzen unseres Handelns bewusst: „Wir wissen nicht, was wir tun“. Wenn zum Beispiel jemand verärgert ist, schreit er Sachen heraus, die er im Grunde weder denkt noch sagen will. Wenn ich ihn jede Minute des Tages vollständig ernst nehme und all die Worte „analysiere“, die er sagte, als er wütend war, kann ich endlose Konflikte hervorrufen. Wenn wir alle Fehler eines Menschen auflisten würden, würden wir dahin kommen, sogar den bezauberndsten Menschen zu einem Monster zu machen.

Wir müssen an die Fähigkeiten des anderen glauben und ihm dies auch zu verstehen geben. Manchmal beeindruckt es zu sehen, wie sehr jemand sich verändern kann, wenn man ihm Vertrauen schenkt, wie tief er sich ändert, wenn man mit ihm liebevoll umgeht. Glücklicherweise gibt es viele Menschen, die andere still und unauffällig dazu ermutigen, besser zu sein. Sie vermitteln ihnen die Sicherheit, dass es in ihnen etwas Schönes und Gutes gibt, trotz ihrer Dummheiten und Fehltritte. Sie verhalten sich nach der bekannten Weisheit: „Wenn du willst, dass der andere gut sei, dann behandele ihn so, als ob er es schon wäre.“

3. Großzügigkeit

Verzeihen verlangt ein barmherziges und großzügiges Herz, die Bereitschaft, über die Gerechtigkeit hinauszugehen. Es gibt komplexe Situationen, in denen die bloße Gerechtigkeit unangemessen ist. Wenn etwas gestohlen wurde, muss es zurückgegeben werden; wenn etwas zerstört wurde, ist es in Ordnung zu bringen oder zu ersetzen. Aber wenn jemand durch die Schuld eines anderen ein Organ verliert, einen Verwandten oder einen guten Freund? Es ist unmöglich, diese Verluste mit Gerechtigkeit wieder gutzumachen. Gerade dann ist das Verzeihen umso notwendiger.

Das Verzeihen hebt das Recht nicht auf, aber es überschreitet es unendlich. Manchmal gibt es keine Lösung im äußeren Umfeld. Aber wenn jemand da ist, der uns unterstützt, versteht und liebt, kann zumindest der innere Schaden verringert werden. Im Mittelalter sagte man klipp und klar: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit.“[16]

Im Verzeihen bemühen wir uns, das Böse durch eine Überfülle von Gutem zu überwinden.[17] Es ist ein Akt von bedingungsloser Natur, eine kostenlose Gabe der Liebe, ein immer unverdientes Geschenk. Dies bedeutet, dass derjenige, der verzeiht, nichts von seinem Angreifer fordert, nicht einmal, dass dieser bereut, was er getan hat. Derjenige, der liebt, hat schon vorher verziehen, lange bevor der Angreifer die Versöhnung sucht.

Die Reue des anderen ist keine notwendige Bedingung für das Verzeihen, aber sie ist natürlich sehr angebracht. Es ist sicherlich viel einfacher zu verzeihen, wenn der andere um Verzeihung bittet. Aber manchmal muss man verstehen, dass in denjenigen, die Schlechtes verüben, Blockaden vorhanden sind, die sie daran hindern, ihre eigene Schuld anzuerkennen.

Es gibt auch eine „unreine“ Art des Verzeihens. Wir können dann von ihr sprechen, wenn die Verzeihung mit Berechnung und Spekulation verbunden wird: „Ich verzeihe dir, damit du dir deines Vergehens bewusst wirst; ich verzeihe dir, damit du dich besserst.“ Es können löbliche erzieherische Ziele sein, aber in diesem Fall handelt es sich nicht um das wahre Verzeihen, das man ohne jegliche Bedingung schenkt, genauso wie die wahre Liebe: „Ich verzeihe dir, weil ich dich liebe – trotz allem.“

Ich kann dem anderen verzeihen, ohne dass ich es ihm zu verstehen gebe - im Falle, dass er es nicht verstehen würde. Es ist ein Geschenk, was ich ihm mache, selbst wenn er es nicht erfährt, oder wenn er nicht weiß warum.

4. Demut

Es braucht Klugheit und Taktgefühl, dem anderen mitzuteilen, dass man ihm verziehen hat. In manchen Situationen ist es nicht ratsam, es sofort zu tun, wenn der andere noch aufgebracht ist. Es könnte ihm wie eine erhabene Rache erscheinen; es könnte ihn demütigen und noch mehr aufregen. Tatsächlich kann das Angebot der Versöhnung durch einen Akt des Verzeihens einen anklagenden Charakter besitzen. Es kann ein heuchlerisches Verhalten verbergen: Ich will zeigen, dass ich Recht habe, dass ich großzügig bin. Was dann den Schritt zum Frieden verhindert, ist nicht der Eigensinn des anderen allein, sondern auch meine Arroganz.

Andererseits ist es immer ein Risiko, die Versöhnung anzubieten, da die Annahme durch den anderen nicht sicher ist. Wer die Versöhnung anbietet, setzt sich immer in irgendeiner Weise der Macht des anderen aus; er macht sich auf gewisse Weise abhängig von der unvorhersehbaren Reaktion und von der Laune des anderen, und er gibt ihm die Möglichkeit, erneut zu beleidigen und zu verletzen. Hier sieht man, dass Demut nötig ist, wenn Verzeihen gewährt und Versöhnung gesucht wird.

Wenn die Umstände es zulassen – vielleicht nach einer langen Zeit – ist es angebracht, ein Gespräch mit dem anderen zu führen. In diesem Gespräch sollte man die eigenen Motive und Gründe, den eigenen Standpunkt so gut wie möglich erklären; und man muss sich die Argumente des anderen aufmerksam anhören. Es ist wichtig, bis zum Schluss zuzuhören und sich anzustrengen, um auch die Worte aufzufangen, die der andere nicht sagt. Ab und zu ist es notwendig, „den Stuhl zu wechseln“, zumindest auf geistiger Ebene, und zu versuchen, die Welt aus der Sicht des anderen zu betrachten.

Das Verzeihen ist ein Akt innerer Stärke, ein Akt der Willenskraft, aber nicht des Machtstrebens. Es ist demütig und respektvoll gegenüber dem anderen. Es will ihn nicht beherrschen oder erniedrigen. Um wahr und „rein“ zu sein, muss derjenige, der verletzt worden ist, selbst das kleinste Zeichen einer moralischen Überlegenheit vermeiden. Man muss es vermeiden, den Schuldigen in den Gesprächen immer wieder neu zu beschuldigen. Wer übermäßig die Schuld der anderen anprangert, steht im Verdacht, die Schuld im eigenen Herzen zu verdrängen. Wir müssen als Sünder, die wir sind, verzeihen und nicht als Gerechte (die wir nicht sind); daher ist das Verzeihen eher ein gegenseitiges „Zuteilen“ als ein einseitiges „Zugestehen“.

Wir alle brauchen Verzeihung, weil wir alle ab und zu den anderen wehtun, selbst wenn wir es gar nicht bemerken. Wir brauchen Verzeihung, um die Knoten der Vergangenheit zu lösen und von neuem anfangen zu können. Es ist wichtig, dass jeder Einzelne die eigene Schwäche, die eigenen Fehler erkennt, die vielleicht den anderen zu einem negativen Verhalten geführt haben, und nicht zögert, auch selbst den anderen um Verzeihung zu bitten.

5. Offensein für Gottes Hilfe

Wir können nicht leugnen, dass die Forderung zu verzeihen in gewissen Fällen an die Grenze unserer Kräfte stößt. Kann man verzeihen, wenn der Angreifer rein gar nichts bereut, sondern sogar sein Opfer beschimpft und dann auch noch glaubt, richtig gehandelt zu haben? Vielleicht wird es in solchen Fällen nicht möglich sein, von ganzem Herzen zu verzeihen, zumindest wenn wir nur von unserer eigenen Fähigkeit ausgehen.

Aber ein Christ ist nie allein. Er kann immer mit der allmächtigen Hilfe Gottes rechnen. Gott selbst gesteht ihm seine große Liebe: „Hab keine Angst, ich hab dich bei deinem Namen gerufen! Du bist mein! Wenn du durch das Wasser gehst, bin ich an deiner Seite, und die Fluten werden dich nicht überwältigen... Du bist wunderbar in meinen Augen, von großem Wert, ich liebe dich.“[18]

Ein Christ kann auch die Freude erfahren, dass ihm von Gott vergeben wird. Die wahre Schuld reicht an den Wurzelgrund unseres Seins: Sie beeinflusst unsere Beziehung zu Gott. Und hier geschieht das Wunder! In totalitären Staaten werden Bürger, die gemäß den Verordnungen der Herrschenden ein abweichendes Verhalten zeigen, in Gefängnisse geworfen oder in Psychiatrische Kliniken eingeliefert. Im Reich Christi dagegen werden die „Abirrenden“ zu einem großen Fest geladen, zum Fest der Versöhnung. Gott ist jederzeit bereit, uns zu verzeihen; er schenkt uns die Gnade der Reue und lädt uns zur Umkehr ein.[19] Seine Gnade bewirkt eine tiefe Umgestaltung in uns: Sie ist fähig, auch die tiefsten Wunden zu heilen und eine neue Ordnung in unserem inneren Chaos zu schaffen.

Immer ist es Gott, der zuerst liebt und der zuerst verzeiht.[20] Es ist Gott selbst, der uns die Kraft schenkt, dieses christliche Gebot zu befolgen, das vielleicht das schwierigste von allen ist: Liebe deine Feinde;[21] verzeihe denen, die dir wehgetan haben.[22] Aber im Grunde handelt es sich nicht (nur) um eine moralische Forderung nach dem Motto: Weil Gott dir gnädig verziehen hat, musst auch du dem Nächsten verzeihen. Es handelt sich vielmehr um eine existentielle Notwendigkeit, um eine lebendige innere Erfahrung: Wenn du wirklich verstehst, was mit dir geschehen ist, dann kannst du gar nicht anders, als den anderen verzeihen. Wenn du es nicht tust, dann hast du noch nicht begriffen, was Gott dir geschenkt hat.

Es gehört zur Identität des Christen, immer wieder um Verzeihung zu bitten und zu verzeihen. Wenn jemand grundsätzlich zu diesem Verhalten nicht bereit ist, könnte man daher von einem Verlust der christlichen Identität sprechen. Daher haben die Nachfolger Christi aller Jahrhunderte auf ihren Meister geschaut, der seinen Henkern am Kreuz verziehen hat.[23] Sie haben es gelernt, die „Tragödien“ in „Siege“ zu verwandeln.

Mit Hilfe der Gnade Gottes können wir sogar einen Sinn in den Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten finden, die wir im Laufe des Lebens zu erleiden haben. Keine Erfahrung ist nutzlos! Ganz im Gegenteil, immer können wir etwas lernen. Auch wenn uns ein Unwetter überrascht, wenn wir Kälte oder Hitze ertragen müssen: Immer können wir etwas lernen, das uns hilft, die Welt, die anderen und uns selbst besser zu verstehen. Gertrud von le Fort sagt, dass nicht nur der lichte Tag, sondern auch die dunkle Nacht ihre Wunder hat: „Es gibt Blumen, die nur in der Wüste blühen, Sterne, die nur am Rande einer Stadt zu sehen sind. Es gibt Erfahrungen der göttlichen Liebe, die uns nur in großer Verlassenheit, am Rande der Verzweiflung geschenkt werden.[24]


SCHLUSSBETRACHTUNG

Das Verzeihen ist ein Akt geistiger Stärke, ein befreiender Akt. Es ist zugleich ein christliches Gebot und eine große Erleichterung. Es bedeutet, sich für das Leben zu entscheiden und mit Kreativität zu handeln.

Trotzdem ist es nicht angemessen, jemanden zum Verzeihen zu drängen. Man muss einem Menschen jene Zeit lassen, die er braucht, um sich zu beruhigen und fähig zu werden zu verzeihen. Wenn wir jemanden, der eine Ungerechtigkeit erfahren hat, beschuldigten, zu empfindlich oder voll Groll und Rachsucht zu sein, würden wir seine Wunde nur noch vergrößern: Er wäre dann in doppelter Weise Opfer.

Im ersten Augenblick sind wir normalerweise nicht fähig, einen großen Schmerz anzunehmen. Wir müssen uns zunächst beruhigen, akzeptieren, dass uns das Verzeihen schwer fällt und dass wir Zeit brauchen. Das kann uns sehr helfen, unserem eigenen Rhythmus zu folgen. Nur ein engherziger Mensch könnte sich über die normalen menschlichen Begrenzungen wundern.

Der Akt des Verzeihens kann eine wirklich harte innere Arbeit erfordern. Aber mit der Hilfe guter Freunde und – vor allem – mit der Kraft Gottes ist es möglich, diese sehr schwierige Aufgabe zu verwirklichen. „Mit meinem Gott spring ich über Mauern“, singt der Psalmist. Wir können an die Mauern denken, die wir in unserem Herzen aufgerichtet haben.

Wenn es uns gelingt, eine Kultur des Verzeihens zu schaffen, werden wir zusammen eine wohnlichere Welt aufbauen können, in der es mehr Vitalität und mehr Fruchtbarkeit gibt; wir werden zusammen eine wirklich neue Zukunft entwerfen können. Ein weises Wort kann unsere Reflexionen zusammenfassen: „Möchtest Du für einen Augenblick glücklich sein? Dann räche dich! Möchtest du für immer glücklich sein? Dann verzeihe!“

Jutta Burggraf

[1] Cf. THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae II-II, q.68,a.4 ad 1.
[2] Ch. DE CHERGÉ, Testament spirituel (1994), in B. CHENU, L’invincible espérance, Paris 1997, S.221.
[3] Mt 5,38.
[4] M. SCHELER, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in Vom Umsturz der Werte, Bern 51972, SS.36f.
[5] P. RAYBON, My First White Friend, New York 1996, S.4f.
[6] Cf. D. von HILDEBRAND, Moralia, Werke IX, Regensburg 1980, S.338.
[7] A. KOLNAI, Forgiveness, in B. WILLIAMS; D. WIGGINS (Hrsg.), Ethics, Value and Reality. Selected Papers of Aurel Kolnai, Indianapolis 1978, p.95.
[8] Cfr. S. WIESENTHAL, The Sunflower. On the Possibilities and Limits of Forgiveness, New York 1998. In anderen Werken dieses Autors wird die Möglichkeit des Verzeihens allerdings offengelassen. Cf. IDEM, Los límites del perdón, Barcelona 1998.
[9] P. LEVI, Sí, esto es un hombre, Barcelona 1987, S.186. Cfr. IDEM, Los hundidos y los salvados, Barcelona 1995, S.117.
[10] Dieser Satz wird dem Stoiker Epiktet zugeschrieben, der bekanntlich ein Sklave war. Cf. EPIKTET, Handbüchlein der Moral, hrsg. von H. Schmidt, Stuttgart 1984, S. 31. Man kann diesen Satz auch –wie die christlichen Märtyrer– in einem positiven und tief religiösen Sinn verstehen.
[11] Der Haß richtet sich nicht gegen die Täter, sondern gegen ihre Werke.. Cf. Rm 12,9. Apok 2,6.
[12] A. CAMUS, Carta a un amigo alemán, Barcelona 1995, S.58.
[13] Cfr. M. CRESPO, Das Verzeihen. Eine philosophische Untersuchung, Heidelberg 2002, S.96.
[14] J. PIEPER, Über die Liebe, München 1972, S.38s.
[15] Cf. ibid., S.47.
[16] THOMAS VON AQUIN, In Matth., 5,2.
[17] Cf. Rm 12,21.
[18] Is 43,1-4.
[19] Is 43,1-4.
[20] Unser Verzeihen ist eine Folge davon, daß wir Vergebung erfahren haben. Cf. Mt 18,12-14. Lk 19,1-10. Ef 4,32-5,2. Col 3,13.
[21] Cf. Mt 5,43-48. Dagegen Lev 19,18: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.”
[22] Cf. Mt 5,23-24; 6,12. Mk 11,25. Lk 11,4.
[23] Cf. Lk 23,34.
[24] G. von LE FORT, Unser Weg durch die Nacht, in Die Krone der Frau, Zürich 1950, SS.90f.