Was ist eine Familie? Auf diese Frage antworteten achtjährige Kinder folgendermaßen:
"In meiner Familie gibt es einen Vater, eine Mutter, zwei ältere Brüder und mich. Wir haben auch einen Hund. Er gehört auch zu unserer Familie, aber er hat nebenbei noch eine eigene Familie."
"In meiner Familie findet mein Vater meine Mutter hübsch, und sie findet das auch. Sie ist nämlich ziemlich eingebildet."
"In meiner Familie machen immer alle dasselbe, zum Beispiel fernsehen."[1]
Das ist also eine Familie. Und was ist eine gute Familie? "Man schaut sich an und weiß Bescheid," sagt eine vierzehnjährige Schülerin schlicht. Eine Zehnjährige meint: "Man muß Heimweh nach seiner Familie bekommen, wenn man fort ist, dann ist die Familie gut." Und eine etwas ältere Schülerin führt aus: "Man erkennt eine prima Familie an den Gesichtern. Wenn alle lachen und fröhlich sind, dann ist alles in Ordnung." Eine Elfjährige schließlich sieht ihre Idealfamilie folgendermaßen: "Der Vater trinkt nicht. Die Mutter motzt nicht. Die Kinder helfen sogar freiwillig. Nur die Katze darf tun, was sie will." Und kurz und bündig sagt eine Zwölfjährige: "Eine Wunschfamilie ist so: Jeder hat seine Freiheit - und keiner nutzt das aus."[2]
Ganz ähnlich antworten auch die Erwachsenen: "Familie bedeutet vor allem, Menschen haben, auf die man bauen kann, heißt lieben und geliebt werden ... heißt unter Menschen leben, die mich verstehen und auf die ich stolz sein kann, und es heißt, viel Freude haben."[3]
Man sieht, daß die Familie trotz mancher anderslautender Prognosen auch heute noch geschätzt wird. Sie befriedeigt so elementare Bedürfnisse des Menschen - wie den Wunsch nach emotionaler Heimat, Geborgenheit und Vertrauen -, daß sie überhaupt nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann. Denn sie ist auf das Tiefste mit dem menschlichen Glück verbunden. Trotzdem aber hat man im Laufe der Jahrhunderte immer wieder versucht, sie zu zerstören. Man hat danach getrachtet, die Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern auseinanderzureißen.
Schon Platon entwarf in seiner Politeia einen Idealstaat, in dem es nichts Privates gibt. Selbst die Frauen und Kinder sollen gemeinsam sein, "so daß weder ein Vater sein Kind kennt, noch ein Kind seinen Vater." Sofort nach der Geburt werden die Kinder in ein Säuglingsheim gebracht, das die Mütter nur für kurze Zeit zum Stillen betreten dürfen, wobei natürlich darauf zu achten ist, daß bloß keine ihr eigenes Kind erkennt.[4] Ähnlich hat Thomas Campanella zu Beginn des 17. Jahrhunderts in seinem Sonnenstaat eine familienlose Gesellschaftsordnung beschrieben. Männer und Frauen wohnen in dieser Diktatur in Kasernen und schlafen in getrennten Hallen. Ab und zu werden sie behördlich zusammengeführt. Ihre Kinder wachsen in staatlichen Heimen auf, ohne die Eltern zu kennen.[5] Besonders drastisch malte George Orwell gegen Mitte des 20. Jahrhunderts in seinem berühmten Buch die Schrecken einer familienfeindlichen Zukunftsgesellschaft: "Eine Welt der Angst, des Verrats und der Qualen, eine Welt des Tretens und Getretenwerdens, eine Welt, die nicht weniger unerbittlich, sondern immer unerbittlicher werden wird, je weiter sie sich entwickelt ... Wir haben die Bande zwischen Kind und Eltern, zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mann und Frau durchschnitten. Aber in Zukunft wird es keine Gattinnen und Freunde mehr geben. Die Kinder werden den Müttern gleich nach der Geburt weggenommen ... Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt - immer und immer wieder."[6] Orwell hat hier zweifellos etwas von dem vorweggenommen, was wir heute in manchen Bereichen unserer Gesellschaft antreffen können: Verwahrlosung familiärer Beziehungen und, damit verbunden, zwischenmenschliche Anonymität. Zwar gehört es noch zum Ritual gewisser Akademieveranstaltungen, über die hohen Scheidungsziffern zu klagen - doch offene Beziehungen und eheähnliche Lebensformen sind inzwischen in weiten Kreisen der Gesellschaft selbstverständlich akzeptiert.
Aber ist es sinnvoll, wie gebannt auf die Schatten zu schauen? Nützt es irgend jemandem, wenn man in immer neuen Liedern den Zustand dieser Welt beweint? Dies ist nicht nur niederdrückend; es ist auch unrealistisch. Denn wo es Schatten gibt, da gibt es auch Licht. Gerade heute wird uns wieder bewußt, wie überaus wichtig es für jeden ist, eine Familie zu haben. "Das öffentliche Klima ist nicht immer freundlich gegenüber Ehe und Familie," sagte Johannes Paul II. bei einem Besuch in Köln. "Und doch erweisen sie sich in unserer anonymen Massenzivilisation als Zufluchtsorte auf der Suche nach Geborgenheit und Glück. Ehe und Familie sind wichtiger denn je: Keimzellen zur Erneuerung der Gesellschaft, Kraftquellen, aus denen das Leben menschlicher wird."[7]
Selbstverständlich gibt es auch zahlreiche traurige und trostlose Familienverhältnisse; jeder kennt sie zur Genüge. Sind das Ehe- und Familienleben nicht von gegenseitiger Liebe geprägt, so können sie zur Hölle auf Erden werden. Gerade weil sie in besonderer Weise darauf abzielen, sehr tiefe Sehnsüchte des Menschen zu erfüllen, ist ihr Mißbrauch besonders grausam. Da wo geliebt wird, wo man sich dem anderen schenkt und öffnet, kann man leicht verletzt werden. So ist es verständlich, daß es Menschen gibt, die die Familie nur noch mit dem Blick der Zyniker zu betrachten vermögen. Doch gerade der Schmerz, den man in Ehe und Familie erfahren kann, gerade die Verwundungen machen deutlich, wie sehr ein Mensch sich nach jemandem sehnt, auf den er sich verlassen kann, nach jemandem, der zu ihm hält, was immer auch mit ihm geschieht, der ihm auch dann vertraut, wenn vieles gegen ihn spricht ... In unseren ehrlichen Stunden ahnen wir vielleicht, daß wir selbst Menschen werden sollten, die anderen diese Erfüllung schenken können. Traurige Situationen führen nicht notwendig in die Resignation. In ihnen können auch neue Kräfte freigesetzt werden. Sieht man, daß zahlreiche Ehen und Familien zerbrechen, so kann der Wunsch entstehen, sich viel mehr dafür einzusetzen, daß sie glücklich sind oder wieder werden.
"Familie ist jenseits der Ideologien," sagt die Philosophin Jeanne Hersch. "Familie ist keine Theorie, keine Idee, auch nicht eine soziologische Lebensweise, sie ist nicht Mittel zum Zweck, etwa zur stabilen Gesellschaft oder zum gesunden Vaterland oder zur Fortpflanzung eines Glaubens. Sie ist nicht gemeinsames Essen einer privat gekochten Mahlzeit und nicht gemeinsamer Schlaf in gegenseitiger Sicherheit - oder sie ist das alles und noch viel mehr ... Sie ist eine tagtägliche Verwirklichung, die sich auf allen Ebenen des Menschseins vollzieht, alle Ebenen des Menschseins beansprucht, allen Ebenen des Menschseins dient."[8] Familie, könnten wir sagen, ist eine Herausforderung. Und zunächst müssen die beiden Ehepartner bereit sein, die Herausforderung anzunehmen. Nur wenn ihre Ehe glücklich ist, dann kann es auch ihre Familie sein.
Doch als Mann und Frau zusammenzuleben, ist gerade im Zeitalter des Feminismus nicht ganz einfach. Die traditionellen Vorstellungen sind zu eng geworden. Viele Frauen wollen ihre Tätigkeiten (mit gutem Recht) nicht auf den häuslichen Bereich beschränken. Sie möchten auch Karriere machen und in der Öffentlichkeit wirken. Zwar gilt das Ziel der älteren Frauenbewegung, Frauen müßten zunächst einmal den Männern gleich werden, programmatisch als überholt und wird so vordergründig auch nicht mehr formuliert. Aber man hat den Eindruck, daß es auf subtile Weise immer noch eine starke Anziehungskraft ausübt. Frau will durchtrainiert sein, mit Jogging und Joghurt, cool wirken und sich um Himmels willen nichts gefallen lassen - zugleich aber auch die "Vorzüge" des weiblichen Geschlechts, den "weiblichen Genius" spielen lassen ... Es herrscht ein Pluralismus von Werten im Frauenbild (und auch im Männerbild). Frauen sind nicht selten überfordert durch die Ansprüche von Familie und Beruf; Männer sind verunsichert. Beide wollen geborgen und frei zugleich sein; sie suchen einen Halt, der Selbständigkeit gewährt. Angesichts dieser Situation genügt es natürlich bei weitem nicht, eine gutbürgerliche Familienmoral aufzupolieren. Den aktuellen Herausforderungen darf nicht mit Spießertum begegnet werden! Vielmehr ist es nötig, einen neuen und tieferen Ansatz für das Zueinander von Mann und Frau zu finden.
Diesen tieferen Ansatz bietet das Christentum; sein innerer Reichtum ist vielen Zeitgenossen völlig unbekannt. Lassen wir uns ohne Vorurteile auf die Lehre Christi ein, so vermögen wir zu entdecken, wie frei und befreiend das eheliche Leben sein kann. Die Partner werden eingeladen, überholte Rollenklischees abzulegen, sich gegenseitig in ihrem Anderssein zu bejahen und miteinander neue Wege zu beschreiten. Sie lernen, in erster Linie von sich selbst zu fordern, nicht von dem Partner. So überfordern sie sich nicht gegenseitig mit egoistischen Ansprüchen oder mit der infantilen Erwartung, es in der Ehe so warm zu haben wie einst im Kinderwagen. Sie lernen aber auch, wie man selbst in Leid und Lebenskrisen zum anderen stehen kann. Und sie erfassen, wozu die Liebe fähig ist - eine Liebe, die nicht träumt, sondern sieht.
Eine Familie, in der Eltern und Kinder füreinander da sind, kann Kraft und Rückhalt für die Anforderungen des Alltags vermitteln. Als Urzelle des gesellschaftlichen Lebens ist sie aber nicht auf sich selbst konzentriert. Sie steht vielmehr unter dem Gesetz der Aussendung. Wenn die Heranwachsenden gelernt haben, was Freundschaft heißt, wenn sie offen sind für die Probleme der anderen und fähig, Verantwortung zu tragen, dann werden sie normalerweise aus der engen Lebensgemeinschaft entlassen, wie es sich aus der Eigenart der Familie ergibt: Das (physische) Zusammenbleiben ist erstrebenswert für die Ehegatten, nicht auch für deren Kinder. Zwar ist das Abschiednehmen oft hart, doch die Eltern dürfen hoffen, daß nun neue Familien als Gemeinschaften des Lebens und der Liebe gegründet werden. Ein arabisches Sprichwort sagt ihnen: "Du bist der Bogen, von dem deine Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden."
Jutta Burggraf
[1] Vgl. Johannes Vilar: Ethos und Manipulation im Aufbau der Familie, in: Zivilisation der Liebe - Perspektiven der Moral, hrsg. von Klaus M. Becker, St. Augustin 1981, S.99 und 127.
[2] Vgl. Kölnische Rundschau vom 29.4.1989, Nr.100.
[3] Vgl. Renate Köcher: Ist die Familie noch zu retten? Der gegenwärtige Stand der Familienforschung, in: Familie ist Zukunft, XIV. Internationaler Kongreß für die Familie, Bonn 1989, S.63.
[4] Vgl. Platon: Politeia.
[5] Vgl. Thomas Campanella: Civitas solis.
[6] George Orwell: 1984, Stuttgart 1950, S.310 f.
[7] Johannes Paul II.: Predigt zum Thema Ehe und Familie, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr.25, hrsg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1980, S.19.
[8] Jeanne Hersch: Familie jenseits der Ideologien, in: Familie ist Zukunft, a.a.O., S.43.